Kultur Theater

Monospektakel XII – mehr Theater geht nicht

Jährlich findet im Theater Die Tonne Reutlingen das Monospektakel statt. Sieben Vorstellungen über eine Woche hinweg verteilt. Der Twist: alle Stücke sind Monologe. Von modernen und abstrakten Inszenierungen bishin zu altbekannten Klassikern aus dem Deutschunterricht ist alles dabei, und das lockt auch ein breites Publikum an. Nach der letzten Vorführung wird das beste Stück von einer Publikumsjury gekührt. Wie es ist in der Publikumsjury zu sein, lest ihr hier!

Aller Anfang ist leicht

Eines Morgens finde ich eine E-Mail in meinem Postfach mit dem Betreff “Anfrage Jury Monospektakel”. Neugierig, ob das nicht eventuell ein Scam ist, öffne ich sie und fange an zu lesen: Tatsächlich wurde ich angefragt, Teil der Jury des diesjährigen Monospektakels im Theater Die Tonne in Reutlingen zu sein. Man sei wegen meiner Rezension zu einem vergangenen Stück (“Morph”) auf mich aufmerksam geworden. Zu meinem Arbeitsumfang gehört lediglich 1. eine Woche lang jeden Abend ins Theater zu gehen und 2. mir über die Stücke Gedanken zu machen. Das klingt einfach, denke ich mir, und nehme das Angebot an.

Von Woyczek und einem Jesus aus Nippeln

Am ersten Abend komme ich im Neubau der Tonne an und hole mir prompt die Jurykarten am Einlass ab. Wir Jurymitglieder sammeln uns noch vor dem ersten Stück und legen fest, mit welcher Methode wir die Gewinner*innen bestimmen wollen. “Das schauen wir dann später.” – auch okay.

Los geht es mit einer Neuinterpretation von Woyzeck, zu Gast aus Hamburg. In einem psychedelischen Ritt treibt das Stück die Zuschauenden durch mehrere Erzählebenen, um am Schluss die Frage zu stellen, warum Woyzeck sich am Ende nicht denn an denen rächt, die ihm Leid antaten, anstelle von seiner unschuldigen Frau. Im Nachgespräch geht es noch viel über die Idee zum Stück, bis hin zur Faszination über das Motiv des Pferdes.

Wortwörtlich ein wilder Ritt
(Foto: Riccarda Russo)
Bevor es iPods gab: Musik auf Reisen
(Foto: Regina Brocke)

Nach einem Tag Pause kommt schon das nächste Stück, Saliha. Erzählt wird die Geschichte einer Gastarbeiterin aus der Türkei, die in den 60er Jahren nach Deutschland kommt und sich eine bessere Zukunft für sich und ihre Kinder erhofft. Im Vergleich zu Woyzeck ist das ein sehr szenisch inszeniertes Stück, auch linear erzählt und live untermalt von einem Musiker mit Folklore. Für uns, die Jury, wird es hier schon kniffelig; zwei vollkommen unterschiedliche Stücke gegeneinander aufzuwiegen scheint schwierig, und es kommen ja noch fünf weitere.

Die Halbzeit wird eingeläutet von NippleJesus. Ein ehemaliger Türsteher arbeitet nun als Security in einem Kunstmuseum und muss auf ein umstrittenes Bild aufpassen. Eine Nahaufnahme von Jesus am Kreuz, doch wer genauer hinschaut, erkennt, dass es ein Fotomosaik aus lauter Frauennippeln ist. Das ganze wird retrospektiv von dem Protagonisten selbst erzählt, mit viel Witz, Impro und Fantasie. Nochmal ein ganz anderes Stück, verdammt.

Ein Schauspiel von großem Ausmaß
(Foto: Nils Böhme)

Bishin zu Popcorn und Akrobaten

Zwischendrin mal die Füße hochlegen
(Foto: MiNZ&KUNST)

Es ist Donnerstag und es macht sich schon langsam bemerkbar, die Jury, einschließlich mir, wirkt etwas ausgelaugt. Passend dazu das Stück des heutigen Abends: Popcorn. Ein Mutmachstück über Einsamkeit aus der Sicht der jungen Julia, die sich in Zeiten von sozialen Medien und Corona ihrer eigenen Einsamkeit stellt. Doch nach dem Stück, in der Pause zwischen der Aufführung und dem Publikumsgespräch, stellt es sich bereits heraus, dass Popcorn, vor allem bei den älteren Jurymitgliedern, nicht überzeugen konnte. Immerhin ein potentieller Kandidat weniger für den ersten Platz.

Am darauffolgenden Tag schleppen wir uns in Nibelungen – ein Solo für Kriemhild, in dem die Schauspielerin für Kriemhild gleichzeitig mit Büsten und Figuren auch in die anderen Rollen schlüpft. Die Sage aus dem Nibelungenlied ist allen bekannt und spielt eine untergeordnete Rolle in der Bewertung, hier findet lediglich die ausgefallene Art, ein Solo wie im Puppenspiel aufzuführen,  Anklang in der Jury. Ein Fakt, der es für uns wieder etwas leichter macht, am Ende einen Sieger zu bestimmen.

Kriemhild und Siegfried in den Flitterwochen
(Foto: Ray Behringer)
Ein bisschen Wahnsinn gehört dazu
(Foto: Alessandro De Matteis)

Vorletzte Vorstellung, Endspurt. AN DER SCHWELLE klingt bereits nach einem abgedrehten Stück, in dem ein Bibliothekar sich auf die Spuren eines Halunken begibt, der ein Buch nach über 110 Jahren wieder abgibt. Komödiantisch aufgeladen entfaltet sich auf der Bühne eine Spurensuche wie in einer True Crime Serie, während der der Bibliothekar zum ersten Mal anfängt, sein Leben zu genießen. Begleitet wird das Ganze von einem Cellisten, der tief in die Trickkiste seines elektrischen Cellos greift, um mit U2 – Where The Streets Have No Name bis zu atmosphärischer Filmmusik den perfekten Soundtrack zum Stück zu liefern. Wir sind uns wieder uneinig; da war ja ein Cello dabei, gilt das denn trotzdem als Monolog?

Das Finale liefert Der Fänger. Es handelt sich aber nicht um den Fänger im Roggen, sondern um einen Zirkusakrobat, der das Publikum an einem Abend seines Jahrestages mitnimmt in seine Vergangenheit als Akrobat, nämlich als Fänger der Trapezkünstler*innen. Denn in seiner Circus-Vergangenheit liegt auch ein tiefer Schmerz, an den er sich an diesem Jahrestag immer erinnert. Ganz ohne Alkohol lässt sich das jedoch nicht aufarbeiten. Nach der Aufführung wird klar, ein weiteres Stück ist ganz oben in der Nominierung dabei.

 

Blick in die Vergangenheit
(Foto: Volker Derlath)

And the Tonnella goes to…

Nachdem nun alle alles gesehen haben, heißt es zusammenkommen und abstimmen. Im Cafe des Tonnekellers um einen runden Tisch sitzen wir da und besprechen, welches Stück es verdient habe, den ersten Platz zu belegen. Jedes Mitglied setzt dafür ein persönliches Ranking auf, bei dem der erste Platz mit sieben Punkten, der zweite mit sechs etc. belegt ist. Die Punkte werden dann zusammengezählt und zumindest die engere Auswahl ist eindeutig. Die Verhandlungsrunden beginnen und wir diskutieren heiß her; ein Monolog mit musikalischer Begleitung scheint wohl nicht in Betracht zu kommen, zum Verhängnis für Saliha und AN DER SCHWELLE.

Das Cafe und insgeheim auch der Besprechungsraum der Jury
(Foto: Tonne Reutlingen)

Übrig bleiben nur noch Der Fänger und NippleJesus. Nach etwas hin und her wird ein Urteil gefällt. Da NippleJesus nicht nur schauspielerisch etwas bieten konnte, sondern mit lauter Kleinigkeiten im ganzen Raum verteilt auch rundherum eine Erfahrung war, entschieden wir uns dafür, NippleJesus die Auszeichnung der Tonnella zu verleihen. Nachdem die schwere Auswahl getroffen wurde, werden von uns noch Pressefotos gemacht und wir verabschieden uns.

Für alle war es eine Freude in der Jury zu sitzen, ob sie sich nun beworben hatten oder angeschrieben wurden. Es war für mich besonders, im Entscheidungsprozess mitzuwirken und schlussendlich auch mit den anderen die Entscheidung zu treffen. Eine Woche fast durchgängig im Theater zu sein hat allerdings auch seinen Tribut gezollt, und so muss ich langsam auch wieder eine Kneipe von innen sehen. Prost!

Klein aber fein: Die Tonnella schaut direkt in die Kamera (Foto: Tonne Reutlingen)

Fotos: Nils Böhme, Riccarda Russo, Regina Brocke, MiNZ&KUNST, Ray Behringer, Alessandro De Matteis, Volker Derlath, Tonne Reutlingen.

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