Politik

Bezahlbares Wohnen für alle?

Es ist nur noch eine Wochen bis zur Wahl des neuen Oberbürgermeisters oder der neuen Oberbürgermeisterin am 23. Oktober. In der heißen Phase des Wahlkampfs befassen sich die Kandidat*innen mit einer Frage, die wohl keine*n Wähler*in kalt lassen dürfte: Wie schafft man in Tübingen mehr bezahlbaren Wohnraum? Hierzu stellten sich die Kandidatin*innen Ulrike Baumgärtner (Grüne), Sophie Geisel (SPD) und Amtsinhaber Boris Palmer am Montag in einer Podiumsdiskussion kritischen Fragen der Veranstalter*innen und des Publikums.

„Der Wohnungsmarkt in Tübingen treibt die Leute um“, stellt die Moderatorin Jelena Haus gleich zu Beginn fest. Dass das keine Untertreibung ist, lässt sich auch daran erkennen, dass zu der Podiumsdiskussion deutlich mehr Personen kamen, als Sitzplätze im Saal zur Verfügung standen. Das Thema Wohnen treibt die Menschen zwar vielerorts um, aber in Tübingen ist die Lage auf dem Wohnungsmarkt bereits so angespannt, dass es sich Vermieter*innen sogar erlauben können, „Besichtigungsprämien“ von Interessierten zu verlangen, wie die Moderatorin aus eigener Erfahrung zu berichten weiß.

Tübingen liegt auf Platz 76 von 5192 Kommunen in Deutschland, was die Höhe der Wohnungsmieten angeht. Diese sind in Tübingen auch deshalb so hoch, weil die Anzahl an Arbeitsplätzen in den letzten Jahren deutlich stärker gestiegen ist als die Zahl der Wohnungen. Das führt dabei nicht nur zu dem Problem, dass das Wohnen an sich immer teurer wird, sondern auch dazu, dass der bestehende Wohnraum ineffizient genutzt wird. Dazu kann es kommen, weil etwa ältere Menschen, die eigentlich eine kleinere Wohnung suchen, nach einem Wechsel des Mietvertrages deutlich mehr Miete zahlen würden als bisher und daher lieber in ihrer alten Wohnung mit dem alten Mietvertrag verbleiben, was es wiederum jungen Familien, die eigentlich mehr Platz bräuchten, erschwert, diesen zu finden.

Die Mieten sind in Tübingen in den letzten Jahren weitergestiegen und nach den bisherigen Entwicklungen kennt dieser Trend für die nächsten Jahre nur eine Richtung: weiter nach oben.

„Keine Profite mit der Miete!“ und „Wohnen ist keine Ware“

Die Veranstalter*innen haben sich für eine recht unkonventionelle Methode entschieden, um mit den Kandidat*innen ins Gespräch zu kommen. So startet die Diskussion mit einer Reihe von Parolen, welche vorne im Saal an die Wand projiziert werden. Die Kandidat*innen müssen zunächst wählen, welcher dieser Parolen sie am meisten zustimmen und ihre Wahl anschließen begründen. Die Auswahl reicht dabei von Sätzen wie „Wohnen ist keine Ware!“ zu „Keine Profite mit der Miete!“ bis hin zu „Miete ins Sparschwein, Kündigung ins Klo, Hausbesetzung sowieso!“, sowie – vermutlich in Anspielung auf das Berliner Volksbegehren, „Deutsche Wohnen enteignen“ und umgemünzt auf Tübingen, wo das Wohnunternehmen Vonovia eine größere Rolle spielt – „Vonovia enteignen!“.  Bei einem solch sozialrevolutionären Angebot ist man fast schon ein wenig enttäuscht, als sich die Kandidierenden für die vergleichsweise noch bürgerlich anmutenden Sätze „Wohnen ist keine Ware“, im Fall von Boris Palmer und Sophie Geisel, sowie „Mietenwahnsinn stoppen!“, im Fall von Ulrike Baumgärtner, entscheiden.

„Ich glaube, jeder, der schon mal versucht hat, in Tübingen eine Wohnung oder ein Haus zu finden, der weiß, worum es geht. Viele Menschen wohnen auf zu wenig Fläche andere wohnen auf zu viel Fläche. Es ist schwierig zu wechseln, weil Angebote zu teuer sind.“

~ Jelena Haus, Moderatorin am 13.10.2022

Nach diesem humoristischen Einstieg geht es gleich weiter mit der sehr konkreten Frage nach der Hauptursache für die hohen Mieten in Tübingen.  Sophie Geisel sieht als Hauptproblem das ungleiche Wachstum von Arbeitsplätzen und Wohnungen in Tübingen. So sind in den letzten zehn Jahren 6000 Arbeitsplätze hinzugekommen, aber nur 4000 Wohnungen. Der Anstieg von Arbeitsplätzen sei nicht das Problem, ist Geisel wichtig zu betonen, aber die Zahl an Wohnungen müsse mit der der Arbeitsplätze langfristig mithalten. Ähnlich äußert sich Ulrike Baumgärtner: „Wachstum von Arbeitsplätzen ist auf der einen Seite wichtig, muss aber einhergehen mit Wachstum von Wohnangeboten.“ Boris Palmer hingegen ist der Ansicht, dass der starke Anstieg der Mieten in Tübingen vor allem auf die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank zurückzuführen sei und dieser daher auch nicht höher ausfiele als in anderen Städten.

Es ist nur das erste Beispiel einer Verteidigungsstrategie, auf die Boris Palmer im Laufe des Abends öfter zurückgreifen wird: Wenn negative Entwicklungen, die in seine Amtszeit fallen, diskutiert werden, ist sich Palmer oftmals sicher, dass die Ursachen nicht auf der Ebene der Kommunalpolitik, und somit im Bereich seiner Zuständigkeit zu verorten sind, sondern auf der Eben, des Landes, des Bundes oder – wie in diesem Fall – auf europäischer Ebene. So argumentiert Palmer ein wenig später etwa, dass es nicht an ihm liege, dass der Anteil an Sozialwohnungen auf Wohnungsmarkt in Tübingen so gering sei, sondern dass dies auf die mangelnde Förderung des sozialen Wohnungsbaus durch die Landesregierung zurückzuführen sei.

Ein Grund für die hohen Mieten in Tübingen ist der Umstand, dass es in Tübingen sehr viele Arbeitsplätze gibt und dabei deutlich mehr Arbeitnehmer*innen hier ihren Arbeitsplatz haben als hier wohnen. Das sorgt zusätzlich zu der großen Anzahl von Studierenden dafür, dass es mehr Personen gibt, die ein Interesse daran haben, nach Tübingen zu hin- anstatt wegzuziehen und die Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt in den letzten Jahren konstant hoch blieb.

Kandidierende zeigen: Auch mit starken Eingriffe in den Wohnungsmarkt hätte sie kein Problem

Weiter geht es mit Ja-Nein-Fragen. Dabei zeigt sich ein erstaunlich hoher Konsens zwischen den Kandidat*innen. So sagen alle drei von sich, dass sie eine Obergrenze für Mieten einführen würden, sollte der Bundestag ein Gesetz verabschieden, das dies auf kommunaler Ebene ermöglichen würde. Gleichermaßen würden alle Kandidat*innen ein städtisches Vorverkaufsrecht zu gesetzlich festgelegten Höchstpreisen durchsetzen, sollte ein entsprechendes Bundesgesetz beschlossen werden. Die Antworten zeigen, dass alle Kandidat*innen der diesjährigen Wahl wenig Hemmungen haben, vergleichsweise starke Markteingriffe vorzunehmen, um das Problem der hohen Mieten in den Griff zu bekommen.

Dennoch wird es wahrscheinlich nie dazu kommen, dass die Stadt Grundstückseigentümer zwingt, unter Marktpreis zu verkaufen, betont Palmer in seiner Begründung. Allein schon, weil das nur schwer mit den grundgesetzlich festgelegten Eigentumsrechten zu vereinbaren wäre. Es ist ihm ebenfalls wichtig zu betonen, dass er 2018 einer der ersten Oberbürgermeister Deutschlands – wenn nicht der erste Oberbürgermeister – war, der die Einführung von Mietendeckeln auf kommunaler Ebene gefordert hatte.

Ulrike Baumgärtner möchte vor allem versuchen, über die Nutzung von Milieuschutzsatzungen stärker in den Mietmarkt einzugreifen, und so die Höhe von Mieten zu deckeln. Diese Satzungen enthalten dabei Auflagen für Vermieter*innen, welche die Stadt erlassen kann, wenn nur so bestimmten Milieus, beispielsweise älteren Menschen, das Wohnen in bestimmten Stadteilen ermöglicht werden kann. Dadurch ließe sich eventuell eine Art Mietendeckel für bestimmte Stadtteile einführen, so wird es von Baumgärtner zumindest angedeutet, auch wenn ihre Ausführungen, was die Details des rechtlich Möglichen und Unmöglichen dieses Vorschlages angeht, relativ vage bleiben.

Ein Vorschlag, den Ulrike Baumgärtner wiederholt macht, ist die Möglichkeit, Grundstücke seitens der Stadt aufzukaufen und sie dann über Erbbauverträge zu verpachten. Bei Erbbaurechtverträgen verbleibt das Grundstück im Besitz des bisherigen Eigentümers, der Pächter hat aber das Recht, auf dem Grundstück ein Haus oder eine Wohnung zu bauen, und ist auch der Eigentümer der Immobilie. Läuft ein Erbbauvertrag aus, gehen die Eigentumsrechte an der Immobilie auf den Grundstückseigentümer über, welcher den ehemaligen Pächter jedoch für diese entschädigen muss. Hierdurch würden auf Grundstücken der Stadt Tübingen befindliche Häuser und Wohnungen zwar von privater Hand erbaut werden, aber dann früher oder später wieder in die öffentliche Hand übergehen. Die Stadt könnte so auf lange Sicht den Anteil an Wohnraum in ihrem Besitz erhöhen. Das klingt in der Theorie sehr kompliziert und ist es vermutlich auch in der Praxis. Leider kommt es im Lauf der Podiumsdiskussion immer wieder vor, dass technisch komplexe Vorschläge eingebracht werden, deren Für und Wider im Anschluss daran nicht mehr ausführlich besprochen werden können.

So stellt sich einerseits die Frage, warum Investor*innen es vorziehen sollten, Grundstücke über ein solches Erbbaurecht zu bebauen, wenn sie die Eigentumsrechte an dem Gebäude nach Auslaufen des Vertrages verlieren und dies auch noch gegen eine Entschädigung, die womöglich unter dem Marktwert der Immobilie liegt. Andererseits hat die Stadt nach Einschätzung aller Kandidat*innen nicht die Mittel, allein und ohne private Investor*innen in den nächsten Jahren ausreichend Wohnraum zu schaffen. Eine Verpachtung städtischer Grundstücke über Erbbaurechtverträge könnte so gesehen ein guter Kompromiss zwischen zu hoher und zu geringer privater Beteiligung am Wohnungsmarkt sein.

Sophie Geisel verweist in ihrer Antwort auf bestehende rechtliche Möglichkeiten der Stadt, ein Vorkaufsrecht zu nutzen – sie nennt hier etwa das im letzten Jahr verabschiedete Baulandmobilisierungsgesetzt. Von diesen rechtlichen Möglichkeiten möchte sie als Oberbürgermeisterin mehr Gebrauch machen, als dies bisher getan wurde.

Geisel für Bebauung des Saiben, Palmer und Baumgärtner dagegen

Boris Palmer, der immerhin ein Buch mit dem Titel „Erst die Fakten, dann die Moral“ verfasst hat, scheint sich mittlerweile auch bei seinen Mitkandidatinnen den Ruf eingehandelt zu haben, andere gerne zu korrigieren. Es ist zumindest auffällig, dass Baumgärtner und Geisel es vermeiden, Zahlen zu nennen, wenn sie sich dieser nicht absolut sicher sind.

So macht sich etwa Baumgärtner, als sie die Zahl von 5000 Wohneinheiten nennt, von denen die Stadtverwaltung angibt, dass sie innerhalb des Stadtgebietes zusätzlich gebaut werden können, die Mühe zu betonen, dass sie diese Zahl nicht nur in der entsprechenden Vorlage der Stadtverwaltung vorher nachgeschaut, sondern diese Vorlage sogar ausgedruckt und mitgenommen habe. Ob sie damit Palmer unterschwellig zu verstehen geben möchte, dass jeder Versuch hier den Besserwissen zu geben, zwecklos ist? So klingt es zumindest.

Auf die Frage eines Vertreters der Tübinger Nestbau AG, einer regionalen Aktiengesellschaft für Wohnungsbau, wie die Kandidat*innen gemeinwohlorientierte Wohnungsbaugesellschaften zu fördern gedenken, kritisiert Baumgärtner, dass seitens der Stadt geplant sei, dass von diesen 5000 Wohneinheiten nur 15 Prozent von der städtischen Gesellschaft für Wohnungs- und Gewerbebau Tübingen GmbH (GWG) gebaut werden sollen. Baumgärtner fordert, dass die Hälfte dieser Wohnungen von Unternehmen wie der GWG und anderen Bauunternehmen mit Gemeinwohlorientierung gebaut werden soll.

„Konkret hat die Stadtverwaltung ausgerechnet, dass 5000 Wohneinheiten innerhalb des städtischen Gebietes möglich sind. Ich möchte davon 2500, also 50 Prozent, für den kommunalen und gemeinwohlorientierten Wohnungsbau reservieren.“

Ulrike Baumgärtner am 10.10.2022

Geisel spricht sich ähnlich wie Baumgärtner dafür aus, 50 Prozent des städtischen Baulandes an gemeinwohlorientierte Unternehmen zu vergeben – mindestens. Geisel hat gegenüber den anderen beiden Kandidat*innen das Alleinstellungsmerkmal, dass sie sich als einzige für die bauliche Erschließung des Saibens, einer bis jetzt vor allem landwirtschaftlich genutzten Fläche westlich von Derendingen und nordöstlich von Weilheim, einsetzt. Geisel spricht sich ebenfalls für eine stärkere Nutzung von Erbpachtmodellen aus. Diese Ansicht teilt auch Palmer und betont, dass die Stadt unter seiner bisherigen Amtszeit nur deswegen derart wenig davon Gebrauch gemacht hätte, weil die Niedrigzinspolitik der EZB dies finanziell unattraktiv gemacht hätte.

 

Die Mieten in Tübingen sind hoch, aber sehr ungleich verteilt. Wer nahe der Innenstadt wohnt, der ist von dem Problem deutlich stärker betroffen.

Erst die Fakten, dann die Moral? – Palmer erklärt Bauvorhaben von Baumgärtner für utopisch, räumt dann ein Missverständnis ein

Was den Anteil der städtischen Baugesellschaft GWG an den in Tübingen zu bauenden 5000 Wohneinheiten angeht, lässt es sich Palmer nicht nehmen, seinerseits ein paar Zahlen aufzutischen. So schätzt er die Kosten, die für die GWG anfallen würden, wenn wie von Baumgärtner gefordert, 2500 dieser Wohnungen von städtischer Hand gebaut werden würden, auf eine Milliarde Euro.

Palmer geht davon aus, dass es der GWG an nötigem Eigenkapital mangele, um einen Kredit dieser Höhe aufzunehmen und dass das von Baumgärtner angepeilte Ziel daher utopisch sei. Um einen solchen Kredit aufnehmen zu können, bräuchte die GWG einen Kapitaltransfer aus dem städtischen Haushalt von mindestens 100 Millionen Euro, schätzt er weiter. Allerdings unterscheidet Palmer bei seiner Rechnung zwischen Wohnungen, die von städtischer Hand gebaut werden und im Besitz der Stadt verbleiben könnten, und solchen, die zwar privat gebaut und vermietet, aber von der Stadt gefördert werden können. So geht er davon aus, dass die Hälfte der besagten 5000 Wohnungen geförderte Sozialwohnungen sein könnten, auch wenn die Stadt nicht alle davon selbst bauen könne.

Palmers Kritik an Baumgärtners Forderung scheint jedoch in Teilen auf einem Missverständnis zu basieren, wie Palmer wenig später selbst einräumen muss. So stellt Baumgärtner nochmals klar, dass das von ihr geforderte Ziel, die Hälfte der geplanten zusätzlichen 5000 Wohneinheiten von der GWG und anderen gemeinwohlorientierten Wohnungsgesellschaften gebaut werden sollen, bedeutet, dass diese Wohnungen auch, aber eben nicht nur von der städtischen GWG gebaut werden sollten, wie es Palmers Rechnung zuvor unterstellte. Also wäre Palmers Einschätzung und Forderung letztlich nahezu identisch mit der von Baumgärtner.

Hausbesetzung als letztes Mittel gegen Leerstand? – Die Kandidat*innen äußern Sympathie, aber keine Unterstützung

Eine Vertreterin des Wohnprojektes in der Münzgasse 13 möchte von den Kandidat*innen wissen, wie sie zu einem äußerst kontroversen Thema stehen: Es geht um Hausbesetzungen als letztes Mittel gegen Leerstände, welche auch im umkämpften Wohnungsmarkt in Tübingen ein Problem darstellen.

Boris Palmer stellt gleich zu Beginn klar, dass er als Oberbürgermeister keine Hausbesetzungen unterstützen kann und wird: „Ich stehe auch dafür, dass Recht und Gesetz gilt, und deswegen sind Hausbesetzungen nicht zulässig“, begründet er seine Haltung. Dennoch fügt Palmer hinzu, dass er bisher keinen Räumungen zugestimmt habe, und auch weiterhin nicht zustimmen werde, wenn abzusehen sei, dass ein zuvor leerstehendes und besetztes Haus nach einer Räumung erneut leer stehen würde: „Wenn ein Haus besetzt ist, dann kommt für mich eine Räumung nicht in Betracht, um den Zustand des Leerstandes herzustellen“, so Palmer. Er verweist hier auf das Beispiel der Gartenstraße 7, wo er sich weigerte, eine vom Eigentümer geforderte Räumung anzuordnen, weil der Eigentümer ihm keine Pläne vorlegen konnte, wie er das Gebäude im Anschluss dem Wohnungsmarkt zur Verfügung stellen würde.

„Wenn ein Haus besetzt ist, dann kommt für mich eine Räumung nicht in Betracht, um den Zustand des Leerstandes herzustellen.“

~ Boris Palmer am 10.10.2022

Geisel betont, dass sie es für utopisch halte zu glauben, dass sich der Bedarf an Wohnraum in den nächsten Jahren allein durch Nachverdichtungen des bisherigen Gebäudebestandes stillen ließe, wie es etwa ihre Konkurrent*innen Baumgärtner und Palmer vorschlagen. Geisel räumt zwar ein, mit Hausbesetzern „leise“ zu sympathisieren, aber mit Palmer darin übereinzustimmen, dass eine Oberbürgermeisterin Hausbesetzungen nicht offen unterstützen könne. Allerdings spricht sie sich dafür aus, stärker von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, bei Leerständen Bußgelder gegen Haus- oder Wohnungseigentümer zu verhängen.

Ausgestattet mit diesen Plakaten, konnten die Kandidierenden in einer Ja-Nein-Runde ihre Zustimmung oder Ablehnung zu einer Reihe von Aussagen über die gegenwärtige Situation auf dem Tübinger Wohnungsmarkts signalisieren.

Soll es weiterhin einen Zwang zur Bereitstellung von Autostellplätzen geben?

Ein weiterer Streitpunkt ist die Position der Kandidat*innen zu Stellplätzen. Bisher muss bei Neubauten oftmals für jede Wohnung ein Stellplatz bereitgestellt werden. Das kostet Fläche, die dann nicht mehr bebaut werden kann oder treibt den Preis der Wohnungen weiter in die Höhe, wenn teure Tiefgaragen hinzugebaut werden müssen – nach Palmers Rechnung um bis zu 1000 Euro pro Quadratmeter. Er und Geisel befürworten daher eine Abschaffung des „Stellplatzzwangs“.

Baumgärtner tut dies auch, betont dabei aber, dass eine Aufhebung der Verpflichtung zum Bau von Stellplätzen bei Neubauten allein nur weitere Probleme schaffen werde. Dabei verweist sie auf ihre Erfahrungen als Ortsvorsteherin von Weilheim, wo ein Mangel ein Stellplätzen vor allem dazu führe, dass viele Autobesitzer*innen ihr Auto einfach am Straßenrand parken, und so wichtige Zugangsstraßen nicht mehr gut befahrbar seien. Sie fordert daher vor allem, den Ausbau des Nahverkehrs weiter voranzutreiben, so dass mehr Personen komplett auf ihr Auto verzichten, gerade auch weil das Angebot für Berufspendler*innen ihrer Meinung nach in vielen Teilorten nicht ausreiche.

Weiter Diskussion zur Bebauung des Saibens

Zur Bebauung des Saiben wirft Palmer der SPD-Kandidatin Geisel vor, soziale Themen gegen ökologische auszuspielen und erklärt kurzerhand, dass das Prinzip von Angebot und Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt schlicht nicht funktionieren würde: „Der Saiben löst kein einziges Problem des sozialen Wohnen ins Tübingen. Weil die Mengensteuerung im Wohnungsmarkt nicht funktioniert.“ Des Weiteren führt Palmer aus: „Wenn da zwei- oder dreitausend Wohnungen hinzukommen, werden sie zu Neubaupreisen erstellt, doppelt so teuer wie die Bestandswohnungen. Alles, was dort entsteht, ist sauteuer und kann runtersubventioniert werden, aber löst unser Problem nicht.“ So argumentiert er auch, dass bei einer Bebauung des Saibens frühestens 2030 die ersten Wohnungen bezogen werden könnten. Er erklärt, die Debatte um den Saiben daher zu einer „Fata-Morgana-Diskussion für die dreißiger Jahre.“ Allerdings erläutert Palmer im Anschluss nicht, warum sich der/die nächste Oberbürgermeister*in nicht auch den zukünftigen Wohnungsmarkt der 2030er Jahren vor Augen haben sollte. Schließlich würde der- oder diejenige voraussichtlich noch bis 2031 im Amt bleiben.

„Ich bezweifle, dass wir in Tübingen bezahlbaren Wohnraum in ausreichender Menge in Bestandsgebäuden schaffen können.“  

~ Sophie Geisel am 10.10.2022 zur Begründung ihrer Forderung nach einer baulichen Erschließung des Saibens

Des Weiteren kritisiert er Geisels Aussage, dass man allein über eine Binnenverdichtung der bisherigen Wohngebiete nicht ausreichend Wohnraum schaffen könne, und verweist hierzu nochmals auf die eingangs zitierte Schätzung der Stadtverwaltung von 5000 zusätzlichen Wohneinheiten, die auf diese Art geschaffen werden können. Das sorgt für Unstimmigkeiten, weil Geisel diese Schätzung in ihrer Aussage gar nicht angezweifelt, sondern lediglich klargestellt hat, dass sie nicht glaubt, dass diese 5000 zusätzlichen Wohneinheiten ausreichen werden und deswegen zusätzlich noch der Saiben bebaut werden sollte.

Palmer räumt zum ersten Mal ein, dass seine bisherige Amtszeit, den jetzigen Wohnungsmangel in Teilen verursacht hat. So äußert sich Palmer: „Ich gebe sogar zu, dass ich ein Teil des Problems mitverursacht habe durch die Strategie, in Tübingen möglichst viele Arbeitsplätze zu schaffen. Dazu stehe ich und ich würde es wieder so machen, weil wir sehr bald dankbar sein werden für jeden Arbeitsplatz in zukunftsfähigen Industrien, den wir noch haben.“ Dennoch hält er eine stärkere Erschließung freier Flächen für Neubauten nicht für die richtige Lösung: „Aber wir werden es nicht schaffen, einfach nur durch Mengenausweitung das Wohnraumproblem in Tübingen zu lösen, dafür ist diese Stadt einfach zu klein.“

Das Wohnen in dieser Stadt ist eines der größten Problem, das die Leute zu Recht bewegt. Das weiß ich. Und ich gebe sogar zu, dass ich einen Teil des Problems mitverursacht habe, durch die Strategie in Tübingen möglichst viele Arbeitsplätze zu schaffen. Dazu stehe ich und ich würde es wieder so machen, weil wir sehr bald dankbar sein werden für jeden Arbeitsplatz in zukunftsfähigen Industrien, den wir noch haben.“

~ Boris Palmer 10.10.2020

Viele Fragen aus dem Publikum an Palmer zur Erhöhung der Grundsteuer

Im letzten Teil der Veranstaltung hat das Publikum die Möglichkeit, Fragen an die Kandidierenden zu stellen. Viele Fragen beziehen sich auf die geplante Erhöhung der Grundsteuer. Palmer verteidigt den geplanten Anstieg und verweist darauf, dass die Tübinger Grundsteuer über Jahre hinweg nicht gestiegen und deshalb allein für einen Ausgleich der Inflation eine Anhebung mehr als überfällig sei. Und auch grundsätzlich sind aus Palmers Sicht Steuerhöhungen nicht illegitim, denn so führt er weiter aus: „Nur Reiche können sich eine arme Stadt leisten.”

Die Sorgen der meisten Grundstückseigentümer*innen hält er für unbegründet. Palmer erklärt, dass geplant sei, die Erhöhung der Grundsteuer nahezu einkommensneutral zu gestalten, also so, dass die städtischen Einnahmen nicht allzu viel höher ausfallen als bisher. Hauptziel der Reform der Grundsteuer sei es, Grundstücke, auf denen hochpreisige Immobilien stehen, stärker zu besteuern als bisher.

Nach der Klärung von Detailfragen zum Thema Grundsteuer, endet die Podiumsdiskussion nach zweistündiger Debatte. Es zeichnete sich ab, dass es für alle Kandidierenden ein wichtiges Ziel ist, die Mieten in Tübingen schnell zu senken, nur über die richtigen Weg zum Ziel herrscht Uneinigkeit. Manche Debatten über missverstandene Zahlen mögen davon abgelenkt haben, dass – abgesehen von der Frage nach der Bebauung des Saiben – viel Einigkeit zwischen den Kandidierenden besteht. 

Fotos: Hannah Burckhardt

Grafiken: Thomas Kleiser, Universitätsstadt Tübingen

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