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Das Leben in vollen Zügen genießen

“Liebe Fahrgäste, herzlich willkommen im IRE 6 Richtung Stuttgart Hauptbahnhof. Wir haben aktuell eine Verspätung von 15 Minuten. Grund hierfür ist das 9€-Ticket.” – Über die Abenteuer einer Bahnreise von Tübingen nach Stuttgart.

Samstag, 4. Juni, 7:17 Uhr. Die Morgensonne taucht das Französische Viertel in Gold. Die Stadt ist noch ganz ruhig, bis auf den morgendlichen Vogelgesang und das Motorengeräusch der Buslinie 4.  Ich stehe an der Bushaltestelle Aixer Straße, auf dem Weg in die Heimat, so wie es wohl einige über die Pfingstpause sein werden.

Der Bus kommt pünktlich, der Bäcker am Bahnhof hat schon offen, ich kaufe mir einen Milchkaffee und freue mich auf die Reise. Bis jetzt läuft alles glatt. Am Fahrstuhl treffe ich eine ältere Dame, die sich kurz freundlich mit mir unterhält, wie es die Süddeutschen eben so tun. Ob ich denke, dass der Zug wegen des 9€-Tickets sehr voll sein wird, fragt sie mich. Ach, antworte ich, es sind sicherlich viele Leute unterwegs, aber das ist ja vorhersehbar. Das wurde in der Planung der Züge bestimmt schon berücksichtigt.

Dann kommt der Fahrstuhl an und ich werde prompt zurück in die Realität geholt. Zwischen Fahrradausflüglern, Rentnertouristen, einem jetzt schon lautstark grölenden Junggesellenabschied und heimreisenden Studierenden sehe ich kaum noch den Bahnsteig. Eine Minute vor Abfahrtzeit sind alle Sitzplätze belegt. Mein Plan, mich möglichst weit vom Junggesellenabschied zu entfernen, ist nicht aufgegangen. Sie sind magischerweise immer noch in Hörweite und fangen nun an, den anderen Fahrgästen Kurze anzubieten. Ich mache mich auf meinem Klappsitz ganz klein und hoffe, dass mein Milchkaffee nicht zum Irish Coffee gemacht wird.

Sylt in Angst vor den 9€-Urlaubern

7:57 Uhr. Der Zug fährt. Im Vierersitz neben mir unterhalten sich Jürgen und Sibylle darüber, wie anstrengend es sei, dass „die ganzen Leute“ jetzt mit dem 9€-Ticket verreisen. Diese Woche war „ihr“ Zug sogar im Berufsverkehr so voll, dass sie gar keinen Sitzplatz mehr gefunden haben. Unglaublich! Fast könnte man meinen, dass mehr Menschen den Nahverkehr regelmäßig nutzen können, wenn er tatsächlich auch bezahlbar ist. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass alle hier im Zug vorhaben, sich heute in nur 20 kurzen Stunden ausschließlich im Regionalverkehr nach Sylt durchzuhangeln.

Überfüllte Bahnsteige lassen auch das Zugpersonal ab und zu verzweifeln.

In Reutlingen warten weitere 89472 Sylt-Tourist*innen darauf, in die Regionalbahn einzusteigen. Unmöglich, sagen die einen; man muss es nur wirklich wollen, meinen die anderen. Ausnahmsweise schaffen es die Einsteigenden, nicht mit dem 20 kg-Koffer einen Meter hinter der Tür stehenzubleiben, sondern auf Anhieb bis in die Mitte des Wagens durchzugehen und ihr Gepäck unter den Sitzen zu verstauen. Die Hoffnung auf einen Sitzplatz liegt in weiter Ferne, Glück hat jetzt, wer sich an einer Haltestange statt an der nächstbesten Person festhalten kann. Oder eben an der zwölften Bierflasche, die der Junggesellenabschied inzwischen geöffnet hat.

Leider stehen aber immer noch Menschen auf dem Bahnsteig. „Bitte gehen Sie weiter durch! Wir wollen auch noch rein!“, ruft es von hinten. Da sich daraufhin nichts tut, greifen die Verbliebenen zur einzig sinnvollen Maßnahme in einer solchen Situation: Gewalt. Sie drücken und schieben, versuchen verzweifelt, einen Fuß durch die Tür zu bekommen, als ginge es um das letzte Rettungsboot der Titanic und nicht um den Zug von Reutlingen nach Stuttgart. Über den Bahnsteig läuft ein Polizist. Vielleicht wird er eingreifen und das Gedränge auflösen, denke ich – doch dann sehe ich ein Paar zusammengeschnürte Wanderstiefel von seinem Rucksack baumeln. Oh nein. Auch er will in den Zug einsteigen.

Durch die Lautsprecher tönt nun endlich eine Durchsage des Zugbegleiters: Der Zug ist voll, wer nicht hineingepasst hat, wartet bitte auf den nächsten. „Bitte geben Sie die Türen frei, damit wir weiterfahren können.“ Nichts passiert. Einige Minuten später wiederholt er die Aufforderung – oder zumindest vermute ich das. Genau kann ich es nicht sagen, denn in meinem Abteil wird alles von Geier Sturzflugs Hit „Bruttosozialprodukt“ aus den Kehlen der Junggesellen übertönt. Der Schaffner macht ernst: „Gehen Sie jetzt von den Türen weg, die werden jetzt zwangsgeschlossen!“ heißt es aus dem Lautsprecher. „Ja, Ja, Ja, Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt“, antwortet der Männerchor. „Ich schließe jetzt die Türen, wer dazwischensteht, hat Pech gehabt!“ – von fern hört man einen leisen Schrei, dann ruckelt der Zug langsam weiter.

4 Minuten Umsteigezeit

Jetzt heißt es aushalten. Wir haben 15 Minuten Verspätung, mir bleiben 4 Minuten Umsteigezeit. Das ist machbar, denke ich, und mache mich bereit für einen Sprint am Stuttgarter Bahnhof. Im Kopf überschlage ich Kosten und Nutzen davon, auf dem Weg zur Tür ein paar Rentnertouristen aus dem Weg zu boxen, als Sibylle mir zuvorkommt. „Könnte ich mal bitte hier durch, ich muss zur Tür, ich hab‘ nämlich ganz wenig Umsteigezeit“, verkündet sie. Ihr Zug fahre um 8:51 Uhr in Stuttgart ab. Ich weise sie freundlich darauf hin, dass es aktuell schon 8:54 Uhr ist und sie sich deshalb die Mühe sparen könne und merke im selben Atemzug, dass auch mein Zug um 8:51 Uhr abgefahren wäre. Mist.

Also lassen Sibylle, Jürgen, der Junggesellenabschied, die Rentnertouristen und ich die eiligen Reisenden in Stuttgart zuerst aussteigen. Dann pilgern wir zum DB Reisezentrum. Es ist mit einem überragenden Personalaufgebot von einer Person besetzt. Sie arbeitet sich unermüdlich durch die endlose Schlange verärgerter Leute, sie beruhigt, erklärt und vermittelt. Mir gibt sie vorsorglich schonmal ein Fahrgastrechteformular mit.

Ob und wann ich heute ankomme, ist unklar. Ich denke an die Frau aus dem Fahrstuhl heute Morgen, frage mich, ob wenigstens sie ihr Ziel erreicht hat. Dann versuche ich, mir die Worte des Schaffners zu Herzen zu nehmen: „Liebe Reisende, bitte seien Sie in der nächsten Zeit ein wenig geduldig, was Bahnreisen angeht.“

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