Kultur

Die Meisterin der Performance in Tübingen

Giftige Pfeile, Schlangen, Kristalle, Gold und Virtual Reality-Technologie. Darauf können sich die Besucher*innen der Kunsthalle Tübingen einstellen. Die Kunsthalle stellt noch bis Februar 2022 ausgewählte Werke der international renommierten Performancekünstlerin Marina Abramović aus.

Seit Juli letzten Jahres können die Besucher*innen der Kunsthalle Tübingen einen Einblick in das Werk der Performancekünstlerin Marina Abramović bekommen. Die Ausstellung wurde von Dr. Nicole Fritz kuratiert. Dabei legte sie den Fokus auf die spirituellen Aspekte in Abramovićs Werk, sodass die Besucher*innen anhand ausgewählter Hauptwerke ihre “Reise ins eigene Innere” verfolgen können. Insbesondere Abramovićs frühe Schaffensphase kann mit bisher unveröffentlichtem Archivmaterial verfolgt werden, darunter auch ihre zwölfjährige Zusammenarbeit mit ihrem Partner Ulay (Frank Uwe Laysiepen, 1943-2020) .

Bei der sogenannten Performance Art handelt es sich um künstlerische Darbietungen eines Performers oder einer Performancegruppe, die aufgrund ihres Situations- und Handlungsbezugs vergänglich sind. Dabei wird die Trennbarkeit von Kunstwerk und Künstler*in hinterfragt sowie die materielle Warenform von ‘traditioneller Kunst’. Bei der Performance Art wird der eigene Körper als Kunstwerk inszeniert, wobei psychische und physische Grenzen ausgetestet werden. Themen emotionaler und spiritueller Wandlungen stehen so auch im Mittelpunkt, und die Performance soll das Publikum mit einbeziehen.

Von Belgrad nach Tübingen

Die serbische Performancekünstlerin Marina Abramović wurde im Jahr 1946 in Belgrad geboren, studierte zwischen 1965 und 1970 an der Akademie der Bildenden Künste in Belgrad Malerei und lebt und arbeitet heute in New York. Sie gilt nicht nur als Pionierin der Performance Art, sondern wird mittlerweile auch als die Meisterin der Performance bezeichnet. Auch zu Tübingen hat die Künstlerin eine besondere Verbindung: Schon im Jahr 1975 entstand eines ihrer zentralen Werke Freeing the Memory in der Tübinger Galerie Ingrid Dacić, mit deren Familie sie auch eine Freundschaft verbindet. Während ihre frühen Performances ihre eigenen physischen und psychischen Grenzen erweitern sollten, stand bei ihrer zwölfjährigen Zusammenarbeit mit ihrem Partner Ulay die enge Symbiose von Leben und Kunst im Zentrum. Nach ihrem Bruch mit Ulay ging die Künstlerin über in eine selbstreflexive Phase, in der sie sich mit ihren individuellen und spirituellen Wurzeln auseinandersetzte.

Abramovićs Arbeit propagierte schon in ihrer frühen Schaffensphase ein “neues empathisches Natur- und Umweltbewusstsein”, angeknüpft an die Tradition der europäischen Mystik. Durch ihre vielen Reisen konnte sie christlich-religiöse Traditionen mit schamanischen, alchemistischen und buddhistischen Elementen erweitern. So konnte die Künstlerin während der letzten 50 Jahre ihren eigenen Zugang zum Transzendenten entwickeln. Ihre Erfahrungen versucht die selbstbewusste und engagierte Impulsgeberin nun mittels ihrer Werke an das Publikum zu vermitteln.

Jenes Selbst / Unser Selbst

Nach dem Bruch mit Ulay, suchte Abramović ein neues Gegenüber in der Natur. Im Dialog mit ihrer Umwelt, verschob sie den Fokus ihrer Arbeit fort von der Beziehung zwischen Menschen hin zur Beziehung zwischen Körper, Geist und Welt. Auch ihr Interesse an verschiedenen Kulturen des Ostens schlägt sich deutlich im spirituellen Charakter der aktuellen Tübinger Ausstellung nieder.

Wer die Ausstellung in der Tübinger Kunsthalle betritt, wird zunächst von einer Polyphonie verschiedener Geräusche erwartet. Worte mischen sich mit rhythmischem Tropfen und Schlägen. Überall begegnen den Besuchenden Videoinstallationen, die die Künstlerin selbst zeigen. Performance Art heißt in diesem Fall jedoch wenig Action und viel gleichmäßige Wiederholung. Das Medium der Videoinstallation zwingt die Zuschauenden dabei, sich auf die Geschwindigkeit der Künstlerin einzulassen. So kann beispielsweise beobachtet werden, wie eine riesige Schlange über Abramovićs vor Konzentration starres Gesicht gleitet. Sie versucht hier, ihrer Angst vor Schlangen zu begegnen. Aus verschiedenen Distanzen zeigt die Installation zeitgleich unterschiedlich fortgeschrittene Stadien der Performance: mal sieht man sie zu Beginn, aufmerksam und kontrolliert, mal ist ihr Makeup bereits vom Schlangenkörper verwischt worden und ihr Blick verschwindet in der Leere.

In den nächsten Räumen begibt sich die Künstlerin auf eine spirituell-mystische Reise. Teil ihrer Serie The Kitchen, Homage to Saint Teresa, ist eine Videoinstallation, in der sie im Bogen des großen Küchenfensters eines Klosters schwebt – gekleidet in formalem Schwarz. Aber auch Sprache ist Teil ihrer Kunst: in einem kleinen Monitor kann man Zeug*in werden, wie Abramović einem Esel gegenübersitzt und ihm von ihrer Kindheit erzählt – einfach irritierend oder Teil ihrer gesellschaftskritischen Reise ins Innere? 

Reisen ohne Grenzen

“Ich fühle mich als moderne Nomadin, und dieser Planet ist mein Atelier.”

Abramović, Marina und Fritz, Nicole: Marina Abramović. Jenes Selbst / Unser Selbst, Köln 2021, S. 23

Reisen ist ein wichtiger Drehpunkt dieser Ausstellung. Indigene Settings werden mit einer spirituellen Reise zur eigenen Seele verknüpft. Das Transzendente wird erforscht, in der Natur und im eigenen Körper.  So werden beispielsweise im selben Raum Selbstgeißelung und intensive Beinahe-Berührungen ausgestellt. Beides physische Herausforderungen, doch was ist schwieriger? Grenzen sollen ausgetestet werden – auf die eine oder andere Weise.

Die schärfste Grenze einer Kunstausstellung besteht in der Regel in der Distanz zwischen Künstler*in und Publikum. Auch diese versucht Abramović bewusst zu überschreiten. Herzstück der Ausstellung bildet nämlich eine Mixed-Reality-Installation mit dem Titel The Life. Dabei wird den Besucher*innen mittels VR-Technik ermöglicht, einem Hologramm der Künstlerin selbst gegenüberzutreten und ihr so ganz nah zu kommen. Eine moderne Form des Selbstporträts könnte man es nennen, aber auch eine vollkommene Reduzierung der Aussage auf ihre bloße Anwesenheit. 

In diesem Medium währt die Performance ewig. Die unsterbliche Künstlerin wird nicht als Artefakt, sondern als verkörperte Energie präsentiert, die für alle Zeiten vor dem Publikum steht“,

erklärt  Regisseur Todd Eckert, der an der Installation beteiligt war, die Idee.

Präsenz zeigt sie dadurch, Interaktion liegt aber auch jenseits der Grenze dieser Darstellungsform. Kreisförmig schleicht die durchscheinende Gestalt innerhalb einer Absperrung durch den Raum. Immer wieder verschwindet sie im Nichts, um aus einem Haufen Partikel neu aufzutauchen.

Tatsächlich schafft auch ein streng geregelter Ablauf dieser Installation durchaus Distanz zwischen der Künstlerin und den Besucher*innen. Personal in weißen Kitteln führt durch die Installation, Wände und Möbel strahlen klinisch weiß. Jede Bewegung wird in unendlicher Ruhe ausgeführt. Die Atmosphäre vermittelt den Besucher*innen, auf etwas Wichtiges vorbereitet zu werden. Steht man zu guter Letzt vor der in sich selbst ruhenden Künstlerin, fühlt es sich an wie eine Audienz. Lässt man sich jedoch auf die Stimmung der Künstlerin ein, wird der Energiedialog spürbar, der die Intention dieser Installation ist. Die Erfahrung dieser virtuellen Begegnung mit der Künstlerin fällt letztendlich für jede*n Besucher*in individuell aus. 

Seit November ist in Tübingen die partizipative Installation Counting the Rice zu sehen. Sie hat The Life im letzten Ausstellungssaal abgelöst.

Die Tübinger Ausstellung kann noch bis zum 13. Februar 2022 besucht werden. Studierende erhalten immer donnerstags freien Eintritt in die Kunsthalle. Besonders empfehlenswert ist das Format „Occupy Art“, eine kurze und fokussierte Führung für Studierende, die jeden zweiten Donnerstag ab 18 Uhr stattfindet.

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