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Über Bildungsarmut, Ungerechtigkeit und Lebenschancen

Am 13. Januar 1902 wurde die freie Hochschule Berlin als erste Volkshochschule überhaupt gegründet. Zum 120-jährigen Jubiläum dieses Ereignis widmete sich die Bildungsforscherin Jutta Allmendinger am letzten Donnerstag in einem Onlinevortrag der Frage, wie sich Bildung auf die Lebenschancen von Menschen auswirkt. Neben einem Überblick, welche Antworten die Forschung auf diese und weitere Fragen zu bieten hat, erzählte sie dabei auch von den Erfahrungen, die sie im Laufe ihres Bildungsweges mit ungerecht verteilten Bildungschancen gesammelt hat.

Neben der Gründung der ersten Volkshochschulen im Jahr 1902 fallen in das 20. Jahrhundert auch andere Meilensteine der Bildungspolitik und Bildungsforschung. So wurde 1919 an der Uni Frankfurt der erste Lehrstuhl für Bildungssoziologie gegründet. Seitdem ist viel Zeit vergangen, in der sich die Bildungsforschung zu einem gut etablierten Zweig der Soziologie und der Politikwissenschaft entwickelt hat. Jutta Allmendinger, die seit 2007 die Präsidentschaft des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung innehat, ist dabei eine bekannte Größe in der Bildungsforschung. Sie prägte maßgeblich den Begriff der „Bildungsarmut“ und machte über die letzten Jahrzehnte hinweg in Wissenschaft und Gesellschaft auf das Ausmaß und die Folgen mangelnder Bildung aufmerksam.

Im Rahmen ihres Vortrages „Wege aus der Ungleichheit. Wie Bildung Lebenschancen schafft“, der von dem Kooperationsnetzwerk deutscher Volkshochschulen „VHS Wissen live“ veranstaltet wurde, beschäftigte sie sich mit allgemeinen Veränderungen der Bildungslandschaft und mit den Ursachen von Bildungsungerechtigkeit. Bildungsgerechtigkeit liegt laut Allmendinger dann vor, wenn zwei Personen bei gleichen Fähigkeiten und gleicher Anstrengung die gleichen Chancen auf Bildung haben. Hierzu merkt sie jedoch an: „Das ist bei uns in Deutschland nicht der Fall. Wir können das an jeder einzelnen Stelle der Bildungskette zeigen“. Zu Bildungsungerechtigkeiten kommt es dabei vor allem, weil der Bildungserfolg maßgeblich von der sozialen Herkunft abhängt.

Kinder von Eltern mit höheren Bildungsabschlüssen erzielen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit höhere Bildungsabschlüsse. Auf allen Bildungsstufen ist die Beteiligungsrate von Kindern aus gebildeteren Elternhäusern deutlich höher als die von Kindern aus nicht-akademischen Elternhäusern. Die Unterschiede seien dabei besonders im Bereich der frühkindlichen Bildung gravierend, merkt Allmendinger an. Dies wiederum liege einerseits an den unterschiedlichen Ressourcen, über welche die verschiedenen sozialen Gruppen verfügen. In internationalen Bildungsstudien wie der bekannten PISA Studie, bei der die Leistungen von Schüler*innen weltweit in standardisierten Test verglichen werden, konnte dabei vielfach ein Zusammenhang zwischen der Anzahl von Büchern in einem Haushalt und der schulischen Leistung gefunden werden. Schüler*innen aus Haushalten mit mehr als hundert Büchern schnitten deutlich besser ab als Haushalte mit weniger als hundert. Gebildetere Haushalte verfügen in einem höheren Ausmaß über diese, aber auch andere Ressourcen, was sich positiv auf den Bildungserfolg ihrer Kinder auswirkt.

Eine wichtige Ressource für den Bildungserfolg ist die Anzahl an Büchern, die ein Haushalt besitzt

Wie soziale Abschottung zu mehr Bildungsungerechtigkeit führt

Eine weitere Ursache für ungerecht verteilte Bildungschancen ist laut Allmendinger aber auch, dass sich soziale Milieus in den letzten Jahrzehnten zunehmend voneinander abschotten. Es komme heutzutage seltener vor, dass Personen mit unterschiedlichen Bildungsniveaus untereinander befreundet sind oder eine*n Partner*in haben, der einen niedrigeren oder höheren Bildungsabschluss hat als sie selbst.

Um das zu veranschaulichen, greift Allmendinger auf das Klischee des Chefarztes zurück, der mit einer Krankenpflegerin verheiratet ist: Auch wenn dieses Beispiel schon früher mehr ein überspitztes Klischee als ein repräsentatives Beispiel war, so kommen solche Konstellationen heute noch deutlich seltener vor, als es früher der Fall war. Heutige Ärzte würden es stattdessen vorziehen, mit einer Ärztin zusammenzukommen, und Krankenpfleger*innen sich andere Krankenpfleger*innen suchen. Das führe dazu, dass das soziale Umfeld von Menschen in Bezug auf Bildung immer homogener werde, und dies wirke sich gerade auf Kinder und Jugendliche aus nicht-akademischen Milieus negativ aus. Denn Erwachsene mit höheren Bildungsabschlüssen im sozialen Umfeld üben auch eine Vorbildfunktion auf Jüngere aus und können diese so dazu motivieren, selbst höhere Bildungsabschlüsse anzustreben.

Wenn sich aber Menschen mit verschiedenen Bildungsniveaus immer weiter voneinander abschotten, ist dies kaum noch möglich. Allmendinger verweist in diesem Zusammenhang auch auf die durch die Bildungsforschung klar belegte Wirksamkeit von Coachingprogrammen, welche gezielt Jugendliche mit Personen mit höheren Bildungsabschlüssen in Kontakt bringen und so versuchen, diese Abschottung zu überwinden. Coachingprogramme, bei denen Studierende Schüler*innen für ein Jahr begleiten können, werden dabei unter anderem auch an der Universität Tübingen angeboten, beispielsweise von der Hochschulgruppe Rock Your Life.

Die Folgen von Bildungsungerechtigkeiten in Politik und Gesellschaft

Bildungsungerechtigkeit führt dazu, dass ein Teil der Bevölkerung ein geringeres Bildungsniveau erreicht, als es unter fairen Bedingungen möglich wäre. Allmendinger argumentiert, dass das nicht nur ein Problem für die Betroffenen selbst, sondern für die gesamte Gesellschaft sei, denn: „Bildung ist ein Schlüsselgut“, und das in vielerlei Hinsicht. So ermöglicht Bildung eine bessere Fähigkeit, sich an veränderte Bedingungen in Gesellschaft und Wirtschaft anzupassen. Es sei daher gerade in Zeiten des technischen Wandels und vermehrter wirtschaftlicher Umbrüche wichtig, dass ein Großteil der Bevölkerung bestmöglich ausgebildet sei.

Deswegen fordert Allmendinger, mehr in Weiterbildung zu investieren. Zwar nehmen bereits drei bis vier Prozent aller Arbeitnehmer*innen aktiv an Weiterbildungen teil, dieser Anteil müsse allerdings noch weiter steigen, vor allem wenn man dabei berücksichtige, dass diese Weiterbildungen hauptsächlich von Personen in Anspruch genommen werden, die ohnehin schon sehr gebildet sind. Bei der beruflichen Weiterbildung kritisiert sie zudem, dass es zu wenig Möglichkeiten gibt, Arbeitnehmer*innen komplett neu auszubilden. Gerade durch den technischen Wandel wird es zunehmend zum Problem, dass manche Berufsbilder vom Arbeitsmarkt verschwinden. In diesen Fällen reiche es nicht, die Betroffenen nur weiterzubilden. Ihnen sollte so früh wie möglich die Gelegenheit gegeben werden, einen neuen Beruf zu lernen.  Allmendinger kritisiert, dass im Falle von Arbeitnehmer*innen mit gefährdeten Berufen erst dann Weiterbildungen erfolgen, wenn diese bereits in die Arbeitslosigkeit abgerutscht sind. Weiterbildungen sollten aber gerade dazu eingesetzt werden, Arbeitslosigkeit zu verhindern.

Gerade aufgrund der Digitalisierung und Globalisierung ist es umso wichtiger, dass Arbeitnehmer die Möglichkeit haben, sich ein Leben lang weiterzubilden oder sogar völlig neu ausbilden zu lassen, wenn dies nötig ist.

Abgesehen von einer Verbesserung der Lebensumstände, hat Bildung noch weitere Vorteile. Sie führt zu einer höheren Bereitschaft zur Selbstreflektion und einer höheren Akzeptanz von Minderheiten und gesellschaftlicher Vielfalt. Diese Werte sind gerade für eine Demokratie wichtig. Allmendinger zitiert den Soziologen, Politiker und Gründer des Instituts für Soziologie an der Uni Tübingen, Ralf Dahrendorf, der das Recht auf Bildung als eins der fundamentalsten Menschenrechte überhaupt betrachtete, weil Bildung mehr als jede andere Ressource gesellschaftliche Teilhabe ermögliche. Gerade die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Teilhabe ist dabei nach Dahrendorf eine notwendige Voraussetzung dafür, dass eine Demokratie funktionieren kann. 

So gibt es beispielsweise allein in Deutschland nach letzten Schätzungen der von der Uni Hamburg (im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung) durchgeführten LEO-Studie etwa 6,2 Millionen strukturelle Analphabet*innen. Struktureller Analphabetismus bedeutet dabei, dass die Betroffen zwar Buchstaben, Wörter und auch Sätze lesen können, allerdings Schwierigkeiten damit haben, den Sinn längerer Texte zu erfassen. Sie wären somit auch nicht in der Lage, den Inhalt von Wahl- oder Parteiprogrammen, aber auch Zeitungsberichten zu erfassen. Das wirft die Frage auf, inwieweit die betroffenen Menschen in der Lage sind, sich über Politik unabhängig und selbständig zu informieren, und sich für ihre Interessen einzusetzen. Dies ist dabei nur ein Beispiel von vielen, wie sich Bildungsarmut negativ auf die Chance zu gesellschaftlicher Teilhabe auswirken kann.

Veränderungen der Bildungslandschaft: Von Standardisierung zu mehr Individualisierung

Nach Allmendinger bestehen Bildungsarmut und Ungleichheiten bis heute, weil es auf Ebene der Länder zwar immer wieder sehr viele Reformversuche gab, diese aber oft sehr unkoordiniert und unsystematisch erfolgten. Ein weiteres Problem liege darin, dass Versuche, das Bildungswesen zu reformieren zu wenig die Ergebnisse der Bildungsforschung berücksichtigten. Bildungsprogramme und Einrichtungen, die außergewöhnliche Erfolge vorweisen können, werden zu selten ausgeweitet und können daher nur vereinzelt ihre Wirkung entfalten.

Gleichzeitig führten die vielen Reformen dazu, dass das Bildungswesen zunehmend entstandardisiert wird. Das bietet zwar Möglichkeiten zur Individualisierung des Lehrbetriebs – was Allmendinger ebenfalls fordert -, aber es führt auch und vor allem, so kritisiert sie, zu einer Zunahme von Intransparenz. Zudem werden die Unterschiede zwischen Personen, die bildungsarm sind, und denen die eher gebildet sind, trotz der Bildungsexpansion der letzten Jahrzehnte immer größer.

Der Vortrag endet mit einer offenen Diskussion zwischen Allmendinger und der Moderation, während der man als Zuhörer*in auch das ein oder andere persönliche Detail über Jutta Allmendinger erfährt. So erwähnt sie, dass sie eigentlich eine ziemlich schlechte Schülerin war und aufgrund ihrer Schulnoten einmal sogar fast nicht versetzt worden wäre. Allerdings sei es dazu dann doch nicht gekommen, weil ihre Lehrer*innen ihr eine gute Prognose bescheinigten und sich trotzdem für ihre Weiterversetzung entschieden.

Sie selbst, so deutet sie es an, geht davon aus, dass ihr die damalige Prognose hauptsächlich wegen ihres bildungsbürgerlichen Elternhauses ausgestellt worden sei. Gewissermaßen habe sie „pränatal“ Abitur gemacht, scherzt sie. Aufgrund ihrer Geburt in ein besser gestelltes soziales Milieu hätten alle, einschließlich ihrer Lehrer*innen, alles dafür getan, damit sie der sozialen Erwartung entspricht, dass eine Person ihrer sozialen Herkunft Abitur macht. Die gegenteilige Erwartung erschwert Kindern aus nicht-akademischen Familien den Bildungsaufstieg oft.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ein Bildungssystem, das Menschen mit gehobener sozialer Herkunft systematisch bevorzugt, ausgerechnet den Bildungsweg einer Person befördert hat, die später diese Bildung dazu nutzen würde, genau diese Bevorzugungsmechanismen offenzulegen und zu anzugreifen. Und das wie kaum eine andere Person in der deutschsprachigen Forschungslandschaft.

Fotos: Pixabay

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