Politik

Die Schrecken der digitalen Lehre – Ein Kommentar

Das Wintersemester 2021/-22 steht bevor, Studierende werden geimpft und wir alle hoffen auf eine Rückkehr zur Präsenzlehre. Wir alle? Wenn es doch nur so einfach wäre.
Ein Kommentar unserer Redakteurin

Dass die Online-Lehre doch eigentlich gar nicht so schlimm sei, dass digitale Vorlesungen schon Vorteile hätten und dass man sich so langsam ein bisschen dran gewöhnt habe – das haben wir alle sicher schon häufig von Kommiliton*innen gehört. All diejenigen, die derzeit im ersten, zweiten oder dritten Semester studieren, haben noch nie eine Präsenzvorlesung erlebt und wissen daher überhaupt nicht, ob sie diese bevorzugen würden. Wir sind nach eineinhalb Jahren in einen digitalen Trott verfallen, und so lange wir abends in Bars gehen oder am Wochenende etwas mit unseren Freunden unternehmen können, finden wir es dann auch nicht so katastrophal, unsere Uni-Arbeit morgens von Zuhause aus zu erledigen. Warum in den EM-Stadien tausende Menschen ohne Maske und Abstand herumhüpfen dürfen, während wir nicht einmal mit Maske und Abstand und Impfung und Test in die Uni gelassen werden, diese Frage stellt man sich nur am Rande. Es ist inzwischen so normal geworden, dass die Uni – gemeinsam mit den Clubs – der letzte Ort sein wird, der aufmacht.

Die Online-Lehre-Liebhaber*innen

Neben der gewöhnlichen Studentin, die sich schon ihre ganzen Vorlesungsaufschriebe so bequem auf den Schreibtisch gelegt und keine wirkliche Lust hat, zur Acht-Uhr-Vorlesung irgendetwas anderes als die Jogginghose zu tragen, gibt es auch noch die absolut überzeugten Befürworter der Online-Lehre. Sie starten Petitionen, und auch aus Teilen des StuRa ist ab und an die Forderung nach einer Beibehaltung der Online-Lehre zu vernehmen. So will die Grüne Hochschulgruppe, dass „wer aus welchen Gründen auch immer noch nicht wieder Präsenz zeigen kann, trotzdem gut studieren kann“, und die Jusos schreiben: „Deswegen soll die Uni auch zukünftig Online-Lehre zusätzlich anbieten und das Konzept der Anwesenheitspflicht überdenken.“ (Hier berichten wir.)

Auch ich studiere nun seit geraumer Zeit in einer seltsamen Blase vor mich hin, meine Kommilition*innen sind Michel Foucault, Pierre Bourdieu oder Judith Butler, meine Gedanken zum Studium teile ich mit mir selbst, oder in Ausnahmefällen auch mal mit meinem Tagebuch oder meinen Mitbewohner*innen. Dadurch dass nichts Aufregendes mehr passiert, kann ich mich auf die Inhalte vielleicht sogar besser konzentrieren, denn weder Partys noch Dates noch die gewöhnlichen Gedanken, die man sich so über seine Alltagsbekanntschaften macht, bieten Stoff für Ablenkung.

Zufrieden bin ich damit allerdings nicht. Seit Monaten tue ich meine Meinung in Fragebögen, die die Uni herumschickt, die mir auf Instagram oder sonst wo begegnen, eindeutig kund: Ja, sobald die Pandemie vorbei ist, will ich umgehend zur Präsenzlehre zurückkehren. Nein, ich habe kein Interesse daran, mir weiterhin Vorlesungsaufzeichnungen anzuschauen oder Seminare über Zoom abzuhalten. Online-Veranstaltungen können reale Veranstaltungen nicht ersetzen und darauf, Menschen in Videokonferenzen kennenzulernen, kann ich mehr als getrost verzichten.

Ein Überschuss an digitalen Einflüssen – Online-Vorlesung vom Bett aus

Warum meine Meinung zu diesem Thema so eindeutig ausfällt? Nun, das frage ich mich selbst oft genug. Viele gute Gründe habe ich sicher. Ein paar gefällig?

  • Google und Co. haben das Ziel, durch eine Digitalisierung des Lernens noch mehr Daten zu sammeln und ihre Monopolstellung auszubauen.
  • Studien haben ergeben, dass man sich Dinge besser merken kann, wenn man die Lernerfahrungen mit Räumen und realen Personen verknüpft.
  • Es ist wichtig, dass man über das Gelernte mit Menschen, die einem nahe stehen, diskutieren und reflektieren kann.
  • Arbeits- und Wohnort sollten getrennt sein.
  • Viele Studierende leiden unter Einsamkeit und psychischen Problemen.

Ein Auswuchs des Kapitalismus?

Auch fällt mir häufig auf, dass eines der Hauptargumente für die Online-Lehre Effektivität ist. In einer Petition heißt es beispielsweise:

  • Krankheitsbedingte Ausfälle müssen nicht Lücken aufarbeiten, sondern können trotzdem am Unterricht teilnehmen. Dies verringert auch das Infektionsgeschehen.
  • Finanziell schwache Studierende können ihrer Arbeit nachgehen, ohne Zeit in Bus und Bahn zu verlieren.
  • Selbsteinteilung der Zeit vergrößert die Flexibilität und ermöglicht den Studierenden ein einfacheres Nachgehen ihres Nebenjobs.
  • Wohnungsnot in Ballungszentren wird verkleinert; viele Studierende verfügen nicht über die finanziellen Mittel teure Wohnungen in Großstädten zu mieten.

Ich persönlich möchte nicht in einer Welt leben, in der Effektivität wichtiger ist als der Spaß am Leben (Moment, in so einer Welt leben wir ja schon lange). Ich habe nicht so viel Lust darauf, mein Dasein im Keller meiner Eltern zu fristen, auf einem Dorf, in dem sehr wenig Sozialleben stattfindet – insbesondere keines für junge Menschen – und das kleine Opfer zu erbringen, meine Mitstudierenden ausschließlich über Zoom kennenzulernen, nur damit ich mehr Zeit habe, in meinem Nebenjob zu schuften. Käme einigen Politiker*innen sicherlich gelegen, wenn wir uns alle freiwillig ins Home-Office verbannen würden, anstatt weiterhin bezahlbare Mieten in den Städten zu fordern.

Vielleicht sollte man lieber etwas gegen die finanziellen Probleme der Studierenden tun – wie zum Beispiel eine Bafög- oder Wohnungsreform – anstatt einfach auf die Möglichkeit der Online-Lehre zu verweisen. Oder wollen wir wirklich, dass die finanziell schwachen Studierenden diese (erzwungenermaßen?) ergreifen und vom hippen Highlife in der Stadt ausgeschlossen werden?

Und dann auch noch Arbeit für die Uni erledigen, wenn man krank ist, das ist ja wirklich die Kirsche auf der Sahnetorte! Klar, noch schlimmer wäre es, krank in die Präsenzuni gehen zu müssen. Am besten wäre es aber vielleicht, einfach mal gar nichts zu tun, wenn man krank ist! Es ist jedenfalls keine gute gesellschaftliche Entwicklung, dass nun der Anspruch erhoben wird, dass man auch krank arbeitet.

Die Online-Lehre verstärkt die gesellschaftliche Trennung von Armen und Reichen – der Kapitalismus nimmt uns Freundschaft, Spaß und Liebe weg!

Der Online-Uni-Alltag

In meinem Kampf gegen die Online-Lehre bin ich nicht aufzuhalten! Ich schreibe Briefe an den StuRa oder an die studentische Vollversammlung, in denen ich eine baldige Rückkehr zur Präsenzlehre fordere und sie bitte, sich gegen eine allzu umfassende Digitalisierung des Lernens einzusetzen. Wenn meine Anträge besprochen werden, bin ich nicht dabei, aus zwei Gründen: 1. Ich habe nicht die Energie, auch noch abends stundenlang vor meinem Laptop zu sitzen und der Online-StuRa-Sitzung beizuwohnen, wenn ich mir stattdessen einen schönen Abend mit meiner WG machen kann, und 2. Ich weiß, dass all das aussichtslos ist. Ich weiß, dass meinen Anträgen niemals zugestimmt werden wird. Ich will mich den ganzen Gegenargumenten nicht aussetzen, denn – und das weiß ich vor allem – meine Argumentationsgrundlage ist nicht einwandfrei. Zumindest nicht so einwandfrei, wie wenn ich für andere Themen plädiere, die mir wichtig sind. Sie ist ein bisschen wacklig, um nicht zu sagen, vielleicht sogar nebelhaft, schwummrig, überhaupt nicht richtig vorhanden. Ich stütze meine Argumentation auf feste Pfeiler, die aber eigentlich nicht das Fundament meiner Meinung sind. Ist das Fundament meiner Meinung eine Angst?

Die digitale Gesellschaft

Angst habe ich vor einer neuen Gesellschaft. Einer, in der man sein ganzes Leben im Internet lebt. Politischer Aktivismus nicht mehr in der eigenen Stadt, sondern auf Twitter oder Instagram; Körperlichkeit und Sinnlichkeit sind Geschichte, stattdessen verschaffen Sexroboter und Tinder-One-Night-Stands uns in regelmäßiger Abwechslung sexuelle Befriedigung und ein ganz kleines bisschen Nähe. Alles ist hygienisch, sauber glänzend, Schmutz, Körperflüssigkeiten oder andere eklige Dinge gibt es nicht mehr. Da wir nicht mehr auf dem Feld arbeiten, sondern den ganzen Tag lang allein vor einem Computer sitzen, brauchen wir abends noch ein bisschen körperliche Betätigung, um einigermaßen gesund zu bleiben.

Ich beobachte, wie man heute niemanden mehr besucht, ohne sich mit ihm zuvor per Smartphone verabredet zu haben. Bevor das reale Ich einen Ort besuchen kann, muss zuvor das digitale Ich dort hingegangen sein, quasi als Vorbereitung. Zahlreiche Autoren und Autorinnen haben die Gefahren dieser Entwicklung dargelegt: Firmen bringen uns mit kommerziellen Absichten dazu, unser digitales Selbst für unser wahres Selbst zu halten. Sie lassen nicht uns entscheiden, was wir sein wollen, sondern teilen uns in eine Kategorie ein und präsentieren uns aufgrund dieser bestimmte Werbung.

Die Philosophin Svenja Flaßpöhler sagte 2018 in einem Gespräch mit Richard David Precht folgendes:

„Wenn man sich das kulturhistorisch anschaut, ist es ja so, dass das Individuum und die Subjektwerdung des modernen Menschen damit einher geht, dass wir uns eben individuieren, dass wir uns trennen vom anderen, während der mittelalterliche Mensch noch so saftmäßig, so körpermäßig ineinander verschlungen war. Es gibt ein sehr schönes Buch von Albrecht Koschorke, „Körperströme“ heißt das, wo er das beschreibt, also diese groteske Ineinanderverschränkung des mittelalterlichen Menschen, wo’s Ansteckung gab und Krankheiten gab. Und der moderne Mensch individuiert sich durch Abstand.“

Idealisierung des Analogen

Beschreibt sie hier nicht genau das, wovor ich Angst habe? Das, was vielleicht längst gekommen ist? Oder idealisiert sie eine Vergangenheit, die eigentlich für niemanden schön war? Die Menschen im Mittelalter waren vielleicht romantisch ineinander verschränkt und durch ihre Körpersäfte verbunden, dafür sind sie auch gestorben wie die Fliegen.

Spannend ist auch Flaßpöhlers expliziter Bezug auf Krankheiten. Die Petition fordert auf, Zuhause zu bleiben, wenn man krank ist, auch wenn die Krankheit nicht Corona ist. Viele Menschen wollen nach der Pandemie weiterhin gerne Masken tragen. Geben wir menschliche Nähe nun auf, weil sie immer ein gewisses Risiko der Ansteckung mit sich bringt? Und ist es eigentlich konservativ, vor einer digitalen Gesellschaft Angst zu haben? Will ich mit meinen 21 Jahren und meinen ganzen progressiven, linken Ansichten nun doch das Alte bewahren, nur weil mir das Neue Furcht einflößt?

Der intrinsische Wert der Präsenz

Die große Frage ist doch: Besitzt die Präsenz einen intrinsischen Wert? Erleben wir in einem Seminarraum etwas, das uns über einen Bildschirm nicht vermittelt werden kann? Wenn wir unserer Professorin von Angesicht zu Angesicht gegenüber sitzen, übermittelt uns ihre Gestik und Mimik dann etwas Wertvolles, das wir über Zoom niemals gesehen hätten?

Der intrinsische Wert der Präsenz ist das Fundament meiner Argumentation. Und meine Argumentation ist wacklig, weil ich nicht weiß, ob es ihn gibt, ob man ihn begründen kann.

Vielleicht sollten wir diese Diskussion, die schon jetzt recht emotional geführt wird, auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Was genau sind überhaupt die Vorschläge und wären diese wirklich so schlimm? Worüber genau diskutieren wir? Darüber, dass Präsenzvorlesungen gefilmt und auch von Zuhause aus angeschaut werden können, oder darüber, auch für Seminare und Tutorien das Format der Videokonferenzen beizubehalten? Eine Effektivitätssteigerung ist außerdem nicht der einzige Grund, aus dem Menschen die Online-Lehre fordern. In der Diskussion wird das zwar selten ausdrücklich so benannt, aber viele Menschen treibt auch die Angst vor sozialem Kontakt an. Und diese Menschen wurden lange genug vernachlässigt.

Letztendlich muss man sich fragen, ob es eine Möglichkeit der Lehre gibt, die jedem und jeder so viel Präsenz ermöglicht, wie er oder sie das möchte. Sicher bin ich mir da nicht, aber falls es eine solche Möglichkeit gibt, sollten wir diese selbstverständlich bevorzugen – intrinsischer Wert hin oder her.

Fotos: Hannah Burckhardt

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