Kultur Kultur im Katastrophenmodus

Von kommunistischen Anime-Helden bis Bridgerton – Wie die Filmbranche das Publikum im Stich lässt

Ein Gastbeitrag von Fiona-Larissa Gottschling und Niclas Karst

Habt ihr schon mal was von dem chinesischen Karl Marx-Anime gehört? Nein? Das ist vielleicht auch besser so, denn diese Zeichentrickserie ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Aber auch westliche Film- und Serienproduktionen nehmen es mit den historischen Tatsachen nicht immer ernst. Was das für fatale Folgen haben kann, erfahrt ihr in dieser kritischen Kolumne.

2018 war das 200-jährige Jubiläum von Karl Marx. In diesem Zusammenhang wurde auch die chinesische Animationsserie “领风者 – Lǐng fēng zhě” produziert, die den englischen Titel “The Leader” trägt und ein Jahr später dann veröffentlicht wurde. Warum ist das Thema relevant? Weil de UNESCO 2013 das „Kapital“ und die erste Seite des „Kommunistischen Manifests“ in das Weltkulturerbe-Programm „Memory of the World“ aufnahm. Das Manifest ist nach der Bibel auch der zweit-meistverbreitete Text weltweit. In der Fernsehserie „Unsere Besten“ (2003-2008) vom ZDF, in der die Zuschauer die wichtigsten deutschen Persönlichkeiten wählen konnten, landete Marx auf Platz drei hinter Adenauer und Luther. Das Interesse an dem besessenen Gelehrten, wie ihn das DAMALS-Magazin in einer Ausgabe betitelte, schwankt zwischen Historisierungs- und Aktualisierungsversuch, wobei Letzteres die Oberhand gewinnt.

Karl Marx als revolutionärer Führer

Die regierende Partei der VR China bezeichnet sich als kommunistisch und so ist es nicht verwunderlich, dass der Marxismus zum Bildungsplan gehört. Die VR China schenkte der Stadt Trier, dem Geburtsort von Marx, 2018 sogar eine 4,40m große Marx Statue. Es ist also kein Zufall, dass das chinesische Propagandabüro den Anime Anfang 2019 veröffentlichte.

Noch berühmter als die Statue in Trier – der “Marx-Nischel” in Chemnitz. Die sächsische Industriestadt wurde zeitweise sogar nach Karl Marx benannt.

In sieben Folgen wird das Leben von Karl Marx in jeweils ca. 23-minütigen Folgen erzählt. Dabei stehen vor allem seine wichtigsten Lebensetappen und seine philosophisch-politischen Ansichten im Mittelpunkt, die sich von seiner Abschlussfeier im Gymnasium bis zu seiner Beerdigung erstrecken. Zu diesen Abschnitten gehören sein Studium, welches seine Weltanschauung maßgeblich prägte, seine Arbeit als Chefredakteur bei der Rheinischen Zeitung, seine Aufenthalte in Paris, London und Brüssel, seine Familie sowie sein enges Verhältnis zu Friedrich Engels.

Allerdings fällt zum einen die freie Auslegung historischer Tatsachen auf, zum anderen wird auch die Philosophie und das Leben des Protagonisten selbst fehlerhaft beschrieben. Die Macher rissen bekannte Zitate deutscher Denker aus dem Kontext. Marx steht immer im Scheinwerferlicht als der geborene, charismatische Anführer und Philosoph. Die Hochzeit mit seiner Frau Jenny von Westphalen muss er sich hart gegen den Willen ihrer Familie erkämpfen, obwohl historische Quellen genau das Gegenteil belegen. Jenny hatte zwei Brüder. Einer davon war Marx’ Kindheitsfreund, der andere war preußischer Beamter. Nur der Zweite war dagegen. Aber schon früh ging Marx beim Baron von Westphalen ein und aus und war gern gesehen.

Außerdem wird die Obrigkeit grundlegend als Manifestation des Bösen dargestellt. An einer Stelle bspw. stürmen Soldaten die Zeitungsredaktion, für die Marx arbeitete. Dies ist historisch inkorrekt, da sie nach preußischem Recht legal war und Beamte jede Zeitung zensierten.

Auch mit der Kulisse und der Kleidung, kurz: der Darstellung des Alltags, nimmt es der Anime nicht so ernst. Männer tragen oft Anzüge, die denen des 20. und 21. Jahrhunderts ähneln, die Hüte werden in Räumlichkeiten in der Regel nicht abgesetzt. Jenny trägt ihr Haar offen, anstatt in einer Hochsteckfrisur, ein rosa Kleid mit einer Schürze, das für ihren gesellschaftlichen Rang unpassend ist. Somit stimmen die Kostüme mit den historischen Bildern aus den 1830er und 40ern nicht überein.

Kulissen, die neidisch machen und dennoch nicht passen

Des Weiteren gleichen die Räumlichkeiten der Universitäten mehr der Moderne. Kneipen sehen wie Bars aus und würden wohl selbst in den meisten Fantasy-Welten nicht als solche durchgehen. Getrunken wird aus modernen, gläsernen Maßkrügen, anstatt aus Getöpferten oder Hölzernen. Die Stadtkulissen bestehen aus gut gepflasterten Straßen und Gehwegen, bei denen sogar das heutige Tübingen vor Neid erblassen würde. Hinzu kommt noch ein fatales Missgeschick, in dem die Macher aus Versehen anstatt Paris ein Bild des modernen Florenz gezeigt haben. Und das mehr als nur einmal.

Im Marx-Anime hat man, aufgrund mangelndem Budgets und Zeit, auf bereits vorhandene Film- und Videospielmusik zurückgegriffen. Diese setzten die Macher ein, um Marx als den Guten und seine Widersacher als die Bösen darzustellen. Dabei zählen auch Vertreter anderer Denkrichtungen, wie die Junghegelianer, zu den Letzteren. Bei gestohlenen Musikstücken bekannter Komponisten wie Hans Zimmer und Nobuo Uematsu (“Final Fantasy”) muss sich der Zuschauer mit den MIDI-Dateien begnügen, die besser zu Videospielen der frühen 1990er passen.

Emanzipation revidiert

Besonders auffallend ist die Rolle der Frau. Jenny ist nach der Hochzeit die brave Hausfrau, bleibt im Hintergrund und ihre Auftritte begrenzen sich auf das Kochen und Tee bringen. Sie war jedoch mehr als nur „die Frau an seiner Seite“: Sie nahm am politischen Kampf Marx’ teil, schrieb seine Werke ins Reine, teilte das harte Exilanten-Schicksal ihres Mannes und blieb bis zum Ende loyal. Eine vertane Chance, ein starkes Frauenbild zu zeigen.

Gerade hier zeigt sich die politische Relevanz von Narrativen in Medien. Die Kommunistische Partei Chinas ist bei Weitem nicht die einzige politische Organisation, die versucht, Geschichtsbilder und berühmte historische Persönlichkeiten für sich zu nutzen, um bestimmte Botschaften sowie Rollenbilder zu vermitteln. Ein gutes Hintergrundwissen hilft, dies bei eigenen Recherchen oder im Alltag zu erkennen.

Doch nicht nur die Zuschauer selbst stehen in der Verantwortung. Man kann schließlich nicht von jedem verlangen, Geschichte zu studieren. Es ist die Filmbranche, in erster Linie die Produzenten und Regisseure, die auf eine akkurate, unproblematische Darstellung achten sollten. Fernsehen hat einen großen Einfluss auf die Meinungen und Sichtweisen der Gesellschaft und ist das Hauptmedium von Kindern, wie diese Studie zeigt. Man sollte es also nicht unterschätzen. Dabei müssen wir jedoch nicht auf die andere Seite der Welt fliegen, um problematische Geschichtsbilder zu finden. Das Problem ist näher als uns lieb ist, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

Geschichtsbilder in der westlichen Filmbranche

Die Serie „Die Deutschen“ (2008-2010), ausgestrahlt im ZDF mit 20 Folgen, beinhaltet ebenfalls ein verzerrtes Geschichtsbild. Sie beginnt mit Karl dem Großen und seinem Konflikt mit den Sachsen. Die erste Folge fühlt sich dabei wie ein Auftakt oder Prolog an. Spätestens ab der zweiten Folge, „Otto und das Reich“, nimmt jedoch für Guido Knopp und Peter Arens, die kreativen Köpfe hinter dem Projekt, die Geschichte der Deutschen ihren Lauf.

Die Folge beginnt zwar mit der Aussage „Noch niemand spricht von den Deutschen“, dem folgen jedoch direkt die Sätze „Ein Volk, das lange braucht, eins zu werden“ und „Die Geschichte der Deutschen kann man hier beginnen lassen“. Außerdem ist von „einem Jahrtausend deutscher Geschichte“ die Rede.

Warum ist das problematisch? Zum einen entstand das erste Dokument, von dem wir wissen, in dem von den Deutschen (Teutsch/diutsch) die Rede war erst im 10. Jh., also das Ende der Ottonen und bezieht sich nur auf die Sprache. Dieses Dokument entsprang auch nicht der Feder einer dieser damaligen „Teutschen“. Erst ab der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 oder ganz sicher ab dem Wartburgfest 1817, kann man überhaupt von so etwas wie einem “deutschen Bewusstsein”, einer “deutschen Identität” sprechen.

Zug der Turner auf die Wartburg am 4. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig am 18. Oktober 1817.; Holzstich, koloriert, zeitgenössisch.

Die Reichsgründung 1871 ist demnach die Geburtsstunde des ersten geeinten deutschen Staates. Es gab jedoch andere, die ebenfalls eine Linie zu den Ottonen ziehen wollten. Heinrich Himmler und die Nationalsozialisten sprachen vom Tausendjährigen Reich und feierten jährlich die Heinrichsfeier am 2. Juli, dem Todestag von Heinrich I. Dieser wurde als Begründer der Deutschen und Verteidiger des Reiches vor den Ungarn bzw. Hunnen dargestellt. Mit der Entscheidung die Geschichte der Deutschen mit der Schlacht auf dem Lechfeld von 955 unter Otto I., Sohn von Heinrich beginnen zu lassen, verstärken die Produzenten dieses Bild erneut. Die Nazis waren es auch, die von einem Tausend Jahre währenden Reich gesprochen haben.

Gute Intentionen schützen nicht vor den Konsequenzen

Sicher war es nicht Knopps und Arens‘ Intention, ein Propagandawerk für Nazis zu schaffen, doch es legitimiert und verstärkt deren Rhetorik. Das hilft heute vor allem extremen Gruppen und Verschwörungstheoretikern. Gerade Kindern fällt es dann schwer, zwischen Erzählungen, Mythos, Lügen und Wahrheit zu unterscheiden und sich in den Erzählungen der Gegenwart zu orientieren.

Darüber hinaus werden Geschichtsbilder auch zur Vermittlung und Untermauerung von Argumenten im gesellschaftlichen Diskurs verwendet. Ein Beispiel hierfür ist die deutsche Diskussionskultur, die aktuell von Prominenten wie Dieter Nuhr oder Boris Palmer kritisiert wird. Dabei berufen sich beide immer wieder auf Zustände während der Weimarer Republik. Ob wir eine so schlimme Diskussionskultur haben, sei dahingestellt. Ein Blick in die Vergangenheit lohnt sich dennoch auf jeden Fall, denn die Ereignisse dieser Zeit haben zu einer der größten Katastrophen in der Menschheitsgeschichte geführt und eine Wiederholung dieser Umstände gilt es um jeden Preis zu verhindern.

Kulisse und Kostüme

Kulissen und Kostüme sind ein wichtiger Aspekt, da das Visuelle oftmals ein wichtiger Beweggrund für Leute ist, sich Filme und Serien anzuschauen. Sie repräsentieren die dargestellten Zeiten. Man kann zwar die Kostüme in Filmen und Serien wie “Reign” (2013-2017) und “Bridgerton” (2020) mit sog. „modernem Twist“ durchgehen lassen, aber wenn man bereits konkrete Zeitangaben hat, sollte man sich stärker daran orientieren, vorausgesetzt man möchte seine Authentizität behalten.

Insbesondere, da, je näher man der Gegenwart kommt, auch mehr historische Quellen aus der Zeit zur Orientierung vorhanden sind, Jedoch verdrängen moderne Narrative immer wieder die historische Akkuratheit. Filme und Serien vermitteln den Zuschauenden viel zu oft ein verfälschtes Bild der gezeigten Vergangenheit. Das bekannteste Beispiel ist das Korsett. Es wird häufig als Symbol der unterdrückten Frau verwendet, wie auch in „Bridgerton“. Oft zeigen Filme und Serien dazu Verletzungen der Haut und das Unbehagen der Schauspieler*innen. Dies sind Folgen einer falschen Trageweise: Die Schauspieler*innen tragen oftmals das nicht passende Korsett direkt auf der Haut, anstatt über einem Untergewand.

Man kann argumentieren, dass man sich solche Unstimmigkeiten nicht zu Herzen nehmen sollte, da sie nur zur Unterhaltung dienen. Aber verschiedene Gruppen nutzen diese Darstellungen in politischen Debatten und es erschwert die Orientierung in der Geschichte.

Musik

Einer der vielen Funktionen der Filmmusik ist das Heranführen der Zuschauer*innen an den Ort und die Zeit, in der das Geschehen stattfindet. „Der Adler der Neunten Legion“ (2011) verwendet traditionelle gälische Musiken, um die keltischen, nicht romanisierten Gebiete nördlich des Hadrianwalls zu untermalen. Da die Musik aus der Zeit aufgrund der spärlichen Quellenlage kaum bekannt ist, bezieht sich der Komponist auf sog “irische Jigs”, gälischen Gesang, Dudelsäcke und Fiedeln, um eine Idee der Kargheit des Nordens im heutigen Schottland darzustellen. Des Weiteren kann durch die im Hintergrund abgespielte Musik, wie z.B. das Musizieren bei Dorffesten oder in Kneipen, vermehrt ein Einblick in die Zeit gegeben werden. 

Wenn nicht gerade für humoristische Zwecke eingesetzt, wirken Popularmusiken meistens, selbst umgearbeitet, eher unpassend. So erklingt als Ballmusik in Bridgerton Streichquartett Arrangements verschiedener Popsongs wie Billie Eilishs „Bad Guy“. Dies lässt die Hofmusik wegen der oftmals minimalistischen Melodieführung in Popsongs wortwörtlich eintönig wirken.

Integration, Diversität und Toleranz – von verpassten Chancen

In der heutigen Zeit wird es immer wichtiger, sich offen für Integration, Diversität und Toleranz auszusprechen. Netflix und Co., versuchen diese Kriterien umzusetzen, werden ihren Bemühungen aber nicht immer gerecht.

Die Darstellung von ethnischen Minderheiten am Hofe von “Bridgerton” drängt die grausame Realität dieser Gruppen zu dieser Zeit in den Hintergrund und kaschiert geschickt die Ausbeutung und Unterdrückung durch die westlichen Mächte. Die Serie erreicht also genau das Gegenteil von dem, was sie eigentlich wollte.

Auch der Film „The Patriot“ (2000) mit Mel Gibson stellt die Sklaven als amerikanische Patrioten dar, die freiwillig und begeistert an der Seite ihrer weißen Herren kämpften. In Wirklichkeit gab es tatsächlich Sklaven, die gegen die Engländer kämpften, da sie mit falschen Versprechungen auf Freiheit angelockt worden waren. Die Briten waren es jedoch, die die Sklaven befreien wollten und genossen deshalb auch deren Unterstützung.

Die Rolle der indigenen Bevölkerung ignoriert der Film vollständig.  Dabei ist die Geschichte der Minderheiten in den USA derzeit so umstritten und aktuell wie nie zuvor. Die Critical Race Theory und das Projekt 1619 sind nur zwei Folgen der Debatte, die rund um das 400. Jubiläum und den Mord an George Floyd wieder entfachten. 

Zu selten werden auch bei der Thematisierung der verschiedenen Sexualitäten in der Filmbranche Fragen wie ‘Wie entgingen die Menschen der Entdeckung?’, ‘Welche Strafen drohten ihnen?’, ‘Wie sah die Lebenswirklichkeit von Randgruppen aus?’ nicht behandelt (z.B. in Europa galt im 18.Jh. für Homosexuelle immer noch die Todesstrafe). Leider eine verpasste Chance. Vor allem, weil Homosexualität bis heute in 69 Ländern strafbar ist und auch in Deutschland immer noch Diskriminierung herrscht (siehe die jüngste UEFA-Entscheidung gegen das Münchner Fußballstadion in Regenbogenfarben). Hier müssen gerade die Streaming-Anbieter nachbessern.

Fazit

Dass die Propagandamaschine der VR China sich bekannter Persönlichkeiten wie Karl Marx bedient, um ihre Agenda durchzubringen, dürfte die Wenigsten überraschen. Doch auch wir sollten einen Schritt zurück machen und überprüfen, ob die westliche Medienwelt verantwortungsvoll genug mit Geschichtsbildern und Narrativen umgeht. Eine Gleichgültigkeit in diesem Bereich hilft in erster Linie den radikalen Gruppen und das kann nun wirklich niemand wollen.

Beitragsfoto: pixabay.com

Illustrationen zu den Themen:

Karl Marx-Denkmal: Hagen Wagner

Wartburgfest: Wikimedia Commons

Bridgerton-Serie: Liam Daniel/Netflix © 2020 

 

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