Kultur Kultur im Katastrophenmodus

Lesen und lesen lassen – Die “Nuit de la Lecture” vom ICFA Tübingen

Ein wenig Abwechslung im Home Office: Das Deutsch-Französische Kulturinstitut streamte am vergangenen Donnerstag die “Nuit de la Lecture”. Ein Abend zwischen Eskapismus und Isolation, Hoffnung und Wehmut. Unsere Redakteurin berichtet.

In Zeiten der physischen und sozialen Isolation vermissen viele die Ablenkung, die unsere Theater, Konzerte und Veranstaltungen mit sich bringen. Innerhalb des Jahres, das seit Beginn der Pandemie nunmehr verstrichen ist, hatten die Kulturinstitutionen schwer zu leiden. Gleichzeitig gab es zum allerersten Mal auch Raum und Zeit, Kulturangebote anzupassen und in die digitale Welt auszuweiten.

Das Deutsch-Französische Kulturinstitut (ICFA) hat diesen Schritt gewagt und am vergangenen Donnerstag ihren ersten Literaturabend im Online-Format angeboten.

Am Donnerstagabend, dem 21. Januar, wurde das Event auf dem YouTube-Kanal des ICFA gestreamt. Roter Faden und Hintergrund des Programms ist der Prix Première, ein Literaturpreis, welcher vom ICFA selbst sowie dem Verein der Freunde des Instituts, dem Institut Français und der Buchhandlung Osiander ins Leben gerufen wurde. Nominiert werden Bücher, welche erstmals aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt wurden. In diesem Jahr sind es ca. 20 Bücher. Das Besondere an der Auszeichnung: Nicht nur Autor*innen, sondern auch Übersetzer*innen gewinnen. Auf der Shortlist für den ersten Platz stehen nunmehr noch drei Titel, welche im Rahmen der Veranstaltung vorgestellt wurden.

Der Stream begann am Donnerstagabend wenige Minuten nach 19 Uhr. Auf den Bildschirmen erschien Ariane Batou-To Van, Leiterin des ICFA. Zunächst auf Deutsch mit starkem Akzent, danach in ihrer Muttersprache Französisch, leitete sie die Veranstaltung ein. “Ein gutes Zuhören und eine neue Entdeckung“, wünschte sie allen Zuhörenden.

Dem wurde dieser Abend allemal gerecht. Mit ein wenig Fantasie fühlte man sich fast wie im Theater. Der digitale Vorhang öffnete sich, Franziska Beyer trat auf die Bühne. Sie ist eigentlich Schauspielerin am Landestheater Tübingen, aber an diesem Abend stellte sie ihr Talent dem ICFA zur Verfügung, um Auszüge aus den nominierten Romanen zu lesen. Ihr französisches Gegenstück, Matteo Leduc, repräsentierte das Théâtre Antoine Vitez in Aix-en-Provence, der Tübinger Partnerstadt. In den Aufnahmen lasen sie nicht nur die Auszüge, sie verkörperten sie und legten sie uns nah ans Herz.

Japanische Wehmut

Thematisch konnten die Texte nicht unterschiedlicher sein. Die erste Nominierte war Ryoko Sekiguchi mit ihrem Buch “Nagori” – eine Hommage an die japanische Küche. Die Auszüge handelten von der Bedeutung dieses Wortes, Nagori: Die Wehmut der Trennung von einer Jahreszeit. Danach wird „Das Wahre Leben“ (Adeline Dieudonnée) vorgestellt – ein herzzerreißender Roman über die schwere Beziehung eines Mädchens zu ihrem Vater. Schließlich folgten Auszüge aus David Lopez‘ „Aus der Deckung“, dem dritten und letzten Nominierten. Es ist ein Coming of Age-Roman und handelt von dörflicher Routine und den Nachteilen des Ausbrechens aus dem System.

Trotz der sehr unterschiedlichen Themen hatten alle drei Bücher mindestens einen gemeinsamen Nenner: Ihr Schreibstil fesselnd, einfühlsam aber dennoch mitreißend und eindringlich. Weghören war nahezu unmöglich, nicht zuletzt aufgrund der äußerst gelungenen Schauspielleistung.

Die Intimität des Virtuellen

Matteo Leduc beim Vorlesen. Foto: ICFA Tübingen

Virtuell zugeschaltet las Matteo Leduc augenscheinlich von seinem Zuhause aus vor – wer aufmerksam zuhörte, schnappte im Hintergrund Geräusche auf. Schritte, einen Hund, der bellte. Man könnte es als Zufall auffassen, oder als gekonnten Einblick in das Leben eines Künstlers, welcher auf seine Kunst angewiesen ist und sie jetzt gerade nur schwer ausüben kann. Trotz der Umstände gibt er fremden Zuschauer*innen in einem fremden Land einen intimen Einblick in sein Heim und stellte somit  eine persönliche Verbindung her.

Anderer Text, anderer Hintergrund

Auch Franziska Beyer vermittelte auf ihre Art eine Nachricht – etwas eleganter und subtiler, aber dennoch verständlich. Im Gegensatz zu Leduc änderte sie ihre Kulisse aber mit jedem Text. Sie begann klassisch auf einer Bühne, den Vorhang im Hintergrund, Scheinwerferlicht im Gesicht. Es ist schließlich ein Event, welches hier gestreamt wurde, und das sollte auch dementsprechend gewürdigt werden. Als sie das nächste Mal auf dem Bildschirm erschien, saß sie vor einer Scheune. Doppeldeutig, da es in ihrem Auszug um handwerkliche Fähigkeiten geht. Die abrupte Szenerie-Änderung erinnerte aber auch an das abrupte Ende aller Theateraufführungen. Während des letzten Auszugs konnte das Bild eindringlicher nicht sein: Beyer sitzt allein im Theater, hinter ihr leere Sitze. In dieser Atmosphäre bringt Beyer nicht nur den Text, sondern ein allgemeingültiges Gefühl über die Bildschirme. Sie erinnerte uns daran, was wir gerade vermissen, aber auch, was wir verlieren könnten, wenn Angebote wie dieses nicht angenommen werden.

Franziska Beyer vor wechselndem Hintergrund. Foto: ICFA Tübingen

Alles in Allem ist es eine Liebeserklärung an ihre Zuschauer, eine ausgestreckte Hand. Beyer vermittelte uns: Wir sind noch da, bitte vergesst uns nicht. Wir hoffen genauso wie ihr, euch bald wieder in Präsenz zu begrüßen, aber im Moment sind wir auf eure Hilfe angewiesen.

So kommt der Literaturabend zu einem gelungenen Schluss mit einem bleibenden Eindruck.

Das Gewinnerteam des Prix Premiére wird per Publikumsvotum entschieden, Leser*innen können noch bis zum 31.03.21 online abstimmen. Der Stream der Nuit de la Lecture bleibt auf dem YouTube-Kanal des ICFA verfügbar. Das Format lädt dazu ein, sich mit einer Schüssel Popcorn, einem guten Wein oder einem Tee auf die Couch zu fläzen, alle Mitbewohner*innen einzuladen und sich für eine knappe Stunde in andere Welten zu träumen – auch die Kulturredaktion wünscht euch „gutes Zuhören und eine neue Entdeckung“.

Titelfoto: ICFA Tübingen

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