Artikelreihen Kultur im Katastrophenmodus

Eine Zeitreise zum Weihnachtsmarkt

Dieses Jahr wird es keine Geschichten von festlichen Umtrünken geben, keine Gespräche am Glühweinstand, kein munteres Durchprobieren auf dem Schokoweihnachtsmarkt. Was einst selbstverständlich war, erscheint uns 2020 fast verrückt. Wie wäre es, wenn jemand eine Zeitreise zurück machen würde? Ein Gedankenexperiment auf dem Tübinger Weihnachtsmarkt.

Meine behandschuhten Hände verknoten sich bei dem Versuch, mir den Schal enger um den Hals zu ziehen, ohne mir dabei die Maske vom Gesicht zu reißen. Da rutscht mir die Mütze tiefer in die Stirn, bis über die Augen, und für einen Moment bin ich blind. Oh, verdammt! Ohne stehen zu bleiben haste ich weiter, und rempele prompt jemanden an. Der ruft mir in wüstem Schwäbisch einen Vorwurf zu. Ich will mich entschuldigen – oder zurück nörgeln – doch plötzlich durchfährt mich ein heftiger Schmerz, von der Stirn die Wirbelsäule hinunter bis in die Kniekehlen. Um mich herum explodiert die Dunkelheit, tausende von bunten Sternchen wirbeln um mich herum. Mir wird augenblicklich schlecht. Ich spüre etwas kaltes durch meine Maske – den vereisten Boden der Neckarbrücke.

Autsch.

Ich weiß nicht, wie lang es dauert, bis die Welt aufhört, sich zu drehen, und ich mich mühsam aufrappele. Ich ziehe mich an der Ursache meines uneleganten Sturzes – einem Laternenpfosten – nach oben, und sehe mich vorsichtig um. Um mich herum herrscht immer noch geschäftiges Treiben, die Sonne steht genau so tief am Himmel wie vor meinem Unfall. Viel Zeit kann also nicht vergangen sein. Dennoch fühlt sich etwas komisch an. Unbehaglich zupfe ich an meiner Mütze herum, bis ich wieder richtig sehen kann. Eine junge Frau, bestimmt eine Studentin, berührt mich an der Schulter, und fragt, ob alles in Ordnung sei. Ich nicke beklommen, und sie zieht sich ihren Schal enger um Hals und Gesicht.

„Was für eine Saukälte…“ brummt sie, und ist schon wieder auf und davon. Schlau, denke ich geistesabwesend. Statt der Maske so einen riesigen Schal anzuziehen. Die waren letztes Jahr auch schon total in Mode…

Ich atme so tief durch, wie es durch die Maske eben geht, und mache mich dann auf den Weg in die Stadt. Eigentlich wollte ich nur schnell neuen Kaffee kaufen. Man verbraucht ja so viel von dem Zeug, seit man nicht mehr drei, vier Mal am Tag in der Cafeteria das berüchtigte Heißgetränk bestellt. Doch noch auf der Neckarbrücke wird mir klar, dass aus diesem schnell nichts wird: Eine schier unglaublich große Zahl an Passanten wuselt durch die Gegend, mit vollen Einkaufstaschen und dampfenden Bechern und Tassen in der Hand. Komisch, denke ich mir. Wo füllen die denn alle ihre eigenen Tassen auf? Ist doch seit November verboten, dass Bäckereien die annehmen…

Und überhaupt, was machen die ganzen Menschen hier?! Die sehen ja fast aus wie…Touristen! Fast so, als hätten die noch nie was von Lockdown-Light gehört…

Und nicht nur ich werde komisch beäugt. Alle, die an mir vorbei gehen, werfen mir neugierige, aber verhaltene Blicke zu. Ein kleiner Junge kann sich gar nicht beherrschen, sein Blick klebt an meinem Gesicht, während sein Vater ihn eilig weiterzieht. Der Vater lächelt mich entschuldigend an.

Und dann trifft es mich wie ein Schlag. Heftiger als der Zusammenprall mit der Straßenlaterne eben: Dieser Mann trägt keine Maske! Keiner außer mir trägt eine Maske. Was soll das denn? Bin ich in einen nur bedingt humorvollen Flash-Mob geraten? War eben noch eine Anti-Masken-Demo? Unmöglich, das hätte ich doch mitbekommen! Und außerdem… so viele nehmen doch nicht in Tübingen an einer Demo teil! Ich schaue mich ein zweites Mal um, und stelle fest, dass hier wirklich nur ich eine Maske trage. Hier muss etwas ganz Seltsames geschehen sein…

Unauffällig ziehe ich die Maske vom Gesicht. Sofort rechne ich damit, darauf angesprochen zu werden, aber natürlich passiert nichts dergleichen. Stattdessen rauschen drei Jugendliche dicht an mir vorbei, wirklich sehr dicht. Sie drängeln sich in einen Bus, vor dem schon einige andere in Winterjacken gehüllte Gestalten stehen. Von Mindestabstand keine Spur. Ich weiche automatisch ein paar Schritte zurück, schlendere langsam die Neckarbrücke entlang. Da entdecke ich ein großes Banner: SCHOKOMARKT 2019. Steht darauf. Ich blinzele, reibe mir die Augen, sehe nochmal hin. Aber im Grunde überrascht mich die Tatsache, dass ich plötzlich ein Jahr in die Vergangenheit gereist bin, nur noch mäßig. Eine andere Erklärung hierfür gibt es nicht.

Eine wilde Freude jagt in mir auf. Weihnachtsmarkt!! Mein inneres Kind rastet total aus. Auf einmal kann ich gar nicht schnell genug mitten in den Menschenmassen sein.

Ich werfe mich also ins Getümmel – buchstäblich. Ich komme keine zehn Meter weit, bevor ich vor einer nahezu undurchdringlichen Menschenwand stehe. Ein kleiner Teil meines Bewusstseins erinnert mich daran, dass es hier früher fast jeden Samstagmittag so voll war. Während ich dem Ellenbogen eines Teenagers ausweiche, wird mir klar, dass ich das gar nicht vermisst habe. Ich weiche einer schnaufenden Dame aus, die sich mit wütenden Blicken einen Weg durch die Menge zu bahnen versucht. Ich hatte wirklich vergessen, wie sich das angefühlt hat. Plötzlich habe ich das Gefühl, schlecht Luft zu bekommen – und das erste Mal seit Langem hat es nichts mit einem Stück Stoff in meinem Gesicht zu tun. Irgendwie beunruhigt mich diese Menschenmenge ganz schön.

Der Tübinger Schokoladenmarkt vor Corona

Mit deutlich gedämpfter Freude ziehe ich weiter. Es riecht nach Glühwein und gebrannten Mandeln und Schokolade. Ich gebe viel zu viel Geld für eine heiße Schokolade mit Schuss aus. Davon landet die Hälfte auf meinem Mantel, als ich zum zehnten Mal angerempelt werden. Irgendwie hatte ich das anders in Erinnerung. Ich stapfe weiter, und versuche, mich an den verschiedenen Ständen sattzusehen. Allerdings komme ich kaum näher als drei Meter heran, dann versperren mir zahllose menschliche Körper den Weg. Komisch, dass ich das die letzten Jahre so sang- und klanglos auf mich genommen habe. Ich kann mich nur wundern. So sehr ich mich im November noch beklagt habe, dass es nun keinen Weihnachtsmarkt gibt – ich sehne mich plötzlich nach meiner Couch.

Aber dann höre ich drei Schulkinder, die in einer Ecke stehen und Weihnachtsmusik spielen. Ein Mädchen hält eine Geige, zwei Jungen spielen Querflöte. Natürlich klingt ihre Musik furchtbar, aber sie sehen so niedlich aus! Die geröteten Wangen, die selbstgestrickten  Mützchen, die leuchtenden Augen… Ich werfe fünf Euro in den geöffneten Geigenkasten und werde mit einer schiefen Version von „Ihr Kinderlein kommet“ belohnt. Ihr Kinderlein kommet, oh kommet doch all, denke ich, und schlendere weiter. Ein komischer Gedanke für das Jahr 2020. Kommet doch all – dass ich nicht lache…

Ich bekomme Appetit auf einen Crêpe mit geschmolzener Schokolade, und stelle mich in eine der kilometerlangen Schlangen. Die Leute um mich herum schnattern laut über geplante Feste. Hinter mir beklagt sich jemand, dass er Weihnachten schon wieder bei den Großeltern verbringen muss. „Immer diese Familienfeiern. Ich wünsche mir echt nichts mehr, als Weihnachten ganz allein daheim verbringen zu können.“ Beinahe drehe ich mich um, um laut zu verkünden: „Dein Wunsch ist dem Weihnachtsmann Befehl!“ Ich tue es aber nicht, denn ich komme endlich an die Reihe. Eine freundlich dreinblickende Verkäuferin fragt mich, was für einen Crêpe ich möchte. Ich zucke innerlich zusammen bei dem Gedanken, gleich fünf Euro für ein Stück gebackenen Teig mit Schokolade auszugeben. Doch dazu soll es gar nicht erst kommen. Ich blicke der Frau ins Gesicht, und beim Anblick ihrer dicken, roten Nase wird mir ganz anders. Ich komme mir furchtbar vor, aber ich drehe mich auf dem Absatz um und entferne mich, nein, flüchte eher von dem Stand. In meinem Kopf dreht sich alles um Viren, Schnupfen und Niesen.

Wie Normalitäten sich verändern

War es wirklich mal normal, mit einem Schnupfen noch zur Arbeit zu kommen? Oder sich so dicht an dicht mit Menschen zu drängen? War es normal, sich die Glühweintasse mit jemandem zu teilen? War es echt normal? Das ganze Gewusel hier? Das ständige Treffen mit allen möglichen Leuten? Und die Waffelverkäufe vor der Uni, das Gruppenkuscheln in der Kälte? Was ist damit? Was ist mit all den Weihnachtsfeiern, von der Uni und von privaten Vereinen? Gottesdienste? Heiliger Morgen? Wie konnte es das alles letztes Jahr noch geben – und nun fühlt es sich an, wie aus einer anderen Welt? Und vor allem: Was nehmen wir auch jetzt noch für selbstverständlich hin, was in Wirklichkeit kostbar und vergänglich ist?

Ich renne völlig kopflos durch die Gegend, platze in Gruppen und rempele gegen Menschen. Niemandem scheint das aufzufallen. Ich will nur hier raus, und tief durchatmen. Ich fliehe immer weiter, bis ich keuchend und schlitternd vor einem Kiosk zum Stehen komme. Ich habe es geschafft, an einen Ort zu kommen, an dem wenig los ist. Von hier aus bekomme ich einen guten Blick auf die Menschentrauben, die sich um Heizkörper drängen und in ihren Glühwein blasen. Ich fühle mich auf einmal klaustrophobisch. Meine Lungen brennen von meiner Rennerei, und ich fülle sie mit kalter Luft. Bevor ich aber an all die Viren denken kann, die sich jetzt bestimmt in meinem Körper tummeln, spüre ich einen groben Stoß in meinem Rücken. Ein Betrunkener hat mir einen schwungvollen Bodycheck verpasst. Auf den unebenen Tübinger Pflastersteinen verliere ich sofort jeglichen Halt und kippe vornüber. Mein Kopf stößt gegen ein Schaufenster, und zum zweiten Mal heute breiten sich all die Sterne des Weltalls in meinem Blickfeld aus.

Mein Kopf dröhnt. Noch immer bin ich bei diesem Kiosk, liege wie ein nicht ganz gelungener Pfannkuchen auf dem Boden. Ich ziehe mich an einem der Zeitungsstände nach oben. In meinen Ohren rauscht es. Mein Blick verschwimmt immer wieder. Ich fixiere die Überschrift einer Zeitung, um einen Fixpunkt zu haben. Und endlich stellen meine Augen scharf. Eine Welle der Übelkeit überschwappt mich wie heißer Glühwein.

Das Datum auf der Zeitung wirft mich fast wieder um. Da steht…Dezember 2021

Langsam, ganz ganz langsam drehe ich mich um. Mit zittrigen Knien stelle ich mich dem Jahr 2021…

Fotos: Hagen Wagner

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