Politik

Alphabet und Antisemitismus – Dr. Michael Blume im Interview

Dr. Michael Blume ist Beauftragter der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus. Die Kupferblau hat mit dem in Tübingen promovierten Religionswissenschaftler über sein Amt als Landesbeauftragter, die Ursprünge des Antisemitismus und die Gefahren von Verschwörungsmythen gesprochen.

Kupferblau: Was sind die Arbeitsbereiche und -aufgaben des Beauftragten der Landesregierung gegen Antisemitismus?

Dr. Blume: Meine Aufgaben bestehen auf der einen Seite darin, aufzuklären und in die Öffentlichkeit hineinzuwirken: Zu erklären, warum Antisemitismus nicht nur Jüdinnen und Juden angeht, sondern die gesamte Gesellschaft bedroht. Die andere Aufgabe besteht auch darin, den jüdischen Gemeinden beizustehen und ihnen zu helfen. Auch dem Landtag haben wir im Oktober einen Bericht mit Handlungsempfehlungen vorgelegt. Auch durch Covid-19 erleben wir jetzt, dass Verschwörungsglauben sehr gefährlich sein kann und ein gesamtgesellschaftliches Thema ist. Daher ist es auch deutlich mehr Arbeit, als ich am Anfang gedacht und erwartet habe. Es macht nicht immer Freude, aber es macht meistens Sinn.

Woher kommt Antisemitismus und warum ist er in vielen Gesellschaften scheinbar doch so festgefahren?

Das Judentum war die erste Religion des Alphabetes. Der Begriff “Alphabet” ist bis heute nach dem hebräischen “alef-bet” benannt. Das Judentum war die erste alphabetisierte Religion – die erste Bildungsreligion. Schon in der Antike waren Juden überdurchschnittlich gebildet. Ihre Religion hat auch dann funktioniert, wenn zum Beispiel die Tempel zerstört wurden oder sie verstreut wurden. Schon in der Antike entstand also der Vorwurf: „Was ist das eigentlich für eine Gruppe? Die sind so schlau, die halten zusammen“. Diese Vorwürfe pflanzten sich dann fort, auch in das Christentum und in den Islam, sowie in die säkulare Weltanschauung. Und heute ist der Antisemitismus tatsächlich ein globales Phänomen. Auch Verschwörungsglauben wird oft über den Antisemitismus aufgebaut.

Sie beschreiben Antisemitismus auch als Glaubenssystem. Was steckt dahinter?

Tatsächlich bin ich ganz klar der Auffassung, dass der Verschwörungsglauben und der Antisemitismus wie eine umgedrehte Religion funktionieren. Während in den Religionen und Weltanschauungen ein Vertrauen in die Welt und die Wissenschaften gelehrt wird, hat man im Antisemitismus das komplette Misstrauen und die komplette Feindschaft. Antisemitismus ist sehr viel aber er ist nicht kreativ, sondern es sind die gleichen Verschwörungsmythen, der Glaube an das Böse, die in jeder Generation und mit jedem neuen Medium neu auftauchen.

Wie prominent und gefährlich kann der Antisemitismus (auch in Baden-Württemberg) eingeschätzt werden?

Also die gute Nachricht ist, dass nach allen Daten und Auswertungen, die uns vorliegen, nicht unbedingt die Zahl der Antisemiten und Rassisten steigt. Die schlechte Nachricht ist allerdings: Diese Leute vernetzen sich im Internet über Facebook, WhatsApp und Co. und werden radikaler, denn sie bestätigen sich gegenseitig. Die Menschen, die ohnehin zu Antisemitismus, Rassismus oder auch Sexismus tendieren, die erschaffen sich jetzt mediale Blasen, wo sie sich gegenseitig aufstacheln. Das ist auch das Problem, dass sich eine Minderheit bis zur Gewaltbereitschaft radikalisiert.

Durch Corona sind einige Verschwörungstheorien mehr in das öffentliche Licht gerückt. Weshalb benutzen Sie den Begriff Verschwörungsmythen?

Eine wissenschaftliche Theorie kann ich überprüfen, die kann ich dann entweder belegt finden aber ich kann sie vor allem auch falsifizieren. Das war ja das berühmte Kriterium von Karl Popper. Er hat damals auch schon vor den Verschwörungstheorien gewarnt, die sich nicht falsifizieren lassen, sondern die geglaubt werden wollen. Er nannte das einen Aberglauben. Deswegen plädiere ich stark dafür, gerade auch in den Wissenschaften, konsequent von Verschwörungsmythen zu sprechen.

Denn es handelt sich bei diesen Verschwörungsvorwürfen nicht um wissenschaftliche Theorien, sondern um mythologische Erzählungen, die gewissermaßen auf den Aufbau von einem Glaubenssystem oder sogar einer Ideologie hinzielen.

Wie funktionieren Verschwörungsmythen und welchen Zweck erfüllen sie?

Also ganz unmittelbar reduzieren Verschwörungsmythen erstmal die Komplexität und Unsicherheit. Ich habe plötzlich eine Erklärung für die Dinge, die ich nicht verstehe. Die Wissenschaften bieten immer nur vorläufige Antworten. Die Virologin kann uns heute noch nicht sagen, ob es eine Immunität gegen Covid-19 gibt oder wann es einen Impfstoff geben wird. Verschwörungsmythen bieten mir vermeintlich sofortige Antworten und die sofortige Möglichkeit, damit umzugehen. Wie andere Mythen auch, leisten die Verschwörungsmythen auch am Anfang Sinn und Gemeinschaft. Die Leute glauben, sie sind die Helden, die die große Verschwörung aufdecken. Und sie können sich gerade auch über das Internet, aber zum Beispiel auch über extreme Gruppen oder Parteien zu vermeintlich wissenden Gemeinschaften zusammenschließen. Dadurch wird der Verschwörungsglaube verfestigt, was eine enorme Sogwirkung entstehen lässt.

Dr. Michael Blume (Copyright: Fotoagentur Loges + Langen, 2019).

Wie verbreitet sind Verschwörungsmythen überhaupt in unserer Gesellschaft?

Es ist tatsächlich so, dass man unterscheidet zwischen manifestem und latentem Antisemitismus. Also manifester Antisemitismus wird sozusagen bekundet, da schließt man sich antisemitischen Gruppen an. Und im latenten Antisemitismus hat man davon gehört, es wird für möglich gehalten, aber es ist in dem Moment noch nicht aktiviert. Und da sind eigentlich die Befunde, dass ungefähr 5% der Bevölkerung einen manifesten Antisemitismus und dann nochmal 10 bis 15% der Bevölkerung einen latenten Antisemitismus aufzeigen. Aber Antisemitismus hat sich insgesamt gesehen globalisiert. Eben auch durch die neuen elektronischen und digitalen Medien. Wir haben aber immer noch kulturelle und regionale Schwerpunkte.

Gibt es demografische Gruppen, die besonders anfällig dafür sind?

Die stärksten stabilen Zusammenhänge, die wir finden, sind zu autoritären Persönlichkeiten. Das heißt also, wer als Kind in den ersten beiden Lebensjahrzehnten die Erfahrung gemacht hat: „Die Welt ist ein böser Ort, du darfst niemandem trauen, die lügen dich alle an und dein Vater schlägt dich nur, um dich vor dem Bösen zu schützen“. Wer solche Erfahrungen in Kindheit und Jugend gemacht hat, wird im Durchschnitt später anfälliger für antisemitische Verschwörungsmythen. Und das kann auch Akademiker betreffen. Dass es sich dabei nur um Arbeitslose, Zuwanderer oder ungebildete Leute handelt, muss ich klar verneinen. Die stärksten Faktoren sind einerseits die autoritäre Erziehung und zum anderen die kulturelle Prägung.

Wie gefährlich sind Verschwörungsmythen für eine Gesellschaft und einen Rechtsstaat?

Ich halte sie tatsächlich für sehr gefährlich. Denn dieser Dualismus – wir sind die Guten und alle anderen sind die Bösen – der macht vor nichts Halt. Deswegen verbindet sich Antisemitismus regelmäßig mit Rassismus, Homophobie oder Sexismus. Und deswegen muss ich ganz klar sagen: Wir müssten den Antisemitismus sogar bekämpfen, wenn wir gar kein jüdisches Leben bei uns hätten. Es ist eine Misstrauenserklärung gegen die gesamte Gesellschaft.

Welche Gegenmaßnahmen sowohl gegen Antisemitismus als auch gegen Verschwörungsmythen gibt es?

Man muss bei sich selber anfangen. Wir alle tragen rassistische, antisemitische, sexistische Stereotypen in uns, oft unbewusst. Also dass zum Beispiel Semiten eine Rasse wären, ist etwas, das glauben auch heute noch ganz viele Menschen, weil sie die anderen, besseren Erklärungen dafür gar nicht kennen – den Zusammenhang mit Bildung zum Beispiel. Das zweite ist, zu erkennen, dass wir Menschen am Anfang einer antisemitischen Radikalisierung noch stoppen können. Wenn Leute fünfzehn Jahre in diesem Verschwörungsglauben drin sind, sind sie oft nicht mehr erreichbar.

Welche Gegenmaßnahme stellt in diesem Bezug die Bildung in der Schule dar?

Das ist tatsächlich einer meiner Schwerpunkte. Ich arbeite sehr viel und gerne an Schulen. Nicht weil die junge Generation die meisten Antisemiten und Rassisten hätte, das ist nicht der Fall, sondern weil wir die jungen Menschen da tatsächlich noch schützen können. Allerdings glaube ich, dass die sogenannte Holocaust-Pädagogik der letzten Jahrzehnte inzwischen sehr veraltet ist. Wenn Kinder und überhaupt junge Menschen über das Judentum nur erfahren, dass es eine Gruppe der Verfolgung ist, nur Schwarz-weiß-Bilder von Leichenbergen sehen, dann entsteht vielleicht Mitleid, aber kein Respekt.

Im Kern geht es ja darum, dass wir lernen mit religiöser, ethnischer und kultureller Vielfalt umzugehen.

Und genau deswegen bitte ich auch beispielsweise die Universitäten im Jubiläumsjahr 2021 mit uns 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland zu feiern. Jüdinnen und Juden sind nicht fremd und wir sollten sie nicht bemitleiden, sondern wir sollten sie als Teil unserer Gesellschaft anerkennen und uns gemeinsam freuen, dass wir als Juden, Christen, Muslime, alle Anders- und Nichtglaubende eine gemeinsame Zukunft in einem freien Land haben wollen. Wenn das angekommen ist, dann haben die Antisemiten schon verloren.

Vielen Dank für das Gespräch, Dr. Blume!

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Titelbild: Unsplash
Beitragsbild: Fotoagentur Loges + Langen, 2019

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